Flucht aus der Einsamkeit
Ich war ganz erschrocken, als Herr Mannschick plötzlich zu mir sagte: "Sie haben noch Kinder, sie sind glücklich, aber ich, ich habe nur noch Gräber... Meine Frau ist schon lange tot, ein Sohn starb mir vor vielen Jahren, auch schon erwachsen, voriges Jahr verlor ich meine einzige Tochter, ich habe nur noch Gräber..."
Ich hätte ja sagen können: ... und viele geliebte Seelen in der Ewigkeit haben sie, und vor sich die Stunde des Wiedersehens, und drüben ein Wiederhaben, Wiederschauen, Wiederumarmen, Wiederfühlen, Wiederwachsen, aber ich schwieg, überwältigt von diesem wehen Rufe "Nur noch Gräber", und zwischen uns war eine Stille.
"Am schwersten", fuhr er fort, "waren mir die Sonntagnachmittage. In der Woche denke ich an mein Geschäft, abends bin ich müde und sinke todmüde ins Bett. Aber die Sonntagnachmittage, o die sind schwer! Dann fühle ich, wie leer alle Zimmer sind, wie leer die Stadt ist, niemand hat Zeit für einen alten Witwer, alles schließt sich freudevoll zusammen, fliegt auf, lebt zwiefach, genießt mit dreifacher Kraft. Ich bin allein. Da kam ich, gottlob, aus einen Gedanken. Dort drüben in der Vorstadt ist ein Versorgungshaus, da sitzen die Alten am Sonntagnachmittag im Garten, Winters im Zimmer, und warten, warten, ja auf was? Auf einen Besuch, aber selten besucht sie jemand, auf eine Freude, aber selten kommt eine Freude, auf den Tod am Ende, aber der verzieht, nach Gottes unerforschlichem Rate. Dort gehe ich jeden Sonntagnachmittag hin. Ich setze mich unter die Alten, und sie erzählen mir. Was habe ich. da schon für prächtige Geschichten gehört! Dann lese ich vor. Die große Mehrheit kann noch gut hören und hört gern zu. Nicht aus Liebe tu' ich's, wissen sie, sonst hätt ich's ihnen nicht erzählt, nein, nur um der schrecklichen Einsamkeit zu entgehen..."
Aus: Friedrich, "Frühling Liebesgeschichten".
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