Falscher Ehrgeiz

Er war ein kleiner Beamter. Sein Heinz, das einzige Kind, sollte es weiterbringen als er. Selbstverständlich musste er aufs Gymnasium, selbstverständlich sollte er da immer unter den Ersten sein! Jeden Tag beim Mittagessen gab' s ein Verhör: Hast du heute auch deine Aufgaben gekonnt? Was hast du für eine Note im Aussatz bekommen? Was hat Bürgermeisters Hans? und Doktors Erich? Wir werden's ihnen schon zeigen. Heinz zitterte jedesmal vor diesen Fragen. Er wusste gut, dass er nicht soviel leisten konnte wie andere, und des Vaters Drängen machte ihn noch ängstlicher, als er von Natur war. Statt nachmittags herumzuspringen, musste er zu Hause lernen, bis sein müder Kopf nicht mehr mittat. Je mehr es der Versetzung zuging, desto schmaler und stiller wurde der Junge. Er begann aus Furcht vor dem Vater schlechte Noten zu unterschlagen oder gar zu fälschen. Der Vater merkte es nicht. Voll stolzer Hoffnung wartete er am Versetzungstag aus seinen Einzigen - aber der kam nicht. Endlich ging er zum Direktor, um nach Heinz zu Fragen und erfuhr dort, dass er sitzengeblieben sei, und schon vor zwei Stunden das Schulhaus verlassen habe... Man fand den Jungen endlich nach langem suchen halb erfroren zwischen Schilf und Rohr am Fuß. Er hatte nicht den Mut gefunden, ins Wasser zu gehen. Nach einer langen Krankheitszeit erholte er sich wieder, durfte das Gymnasium verlassen und, seinem heimlichen Wunsch folgend, Uhrmacher werden. Der Vater aber war von seinem Ehrgeiz gründlich geheilt.
Nach E. v. Wildenbruch, "Kinderfrauen".

 

Quelle: Er ist unser Leben: Beispiel- und Stoffsammlung für die Verkündigung, Martin Haug, 1941, Beispiel 639
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