Evangelist H. Kemner und die Polizei

Der Evangelist H. Kemner erzählt: Kurz nach dem Kriege hatte ich in einem Nachbardorf eine Jugendversammlung zu halten. Auf der Rückfahrt mit dem Auto waren meine Gedanken noch ganz bei der Jugend. Da überraschte mich die Polizei am Dorfeingang: "Weiße Mäuse", die Kontrolle übten. Sie verlangten die Autopapiere und das Fahrtenbuch, das damals vorgeschrieben war.
Als ich in den Wagentaschen herumsuchte, musste ich feststellen, dass ich die Papiere vergessen hatte. Ich entschuldigte mich und stellte mich als Gemeindepfarrer vor. Dabei bat ich, die Ausweise holen zu dürfen. Die Belehrung, die mir zuteil wurde, war nicht gerade freundlich. Ich hatte es mit dem Militärgericht zu tun.
Nach einiger Zeit kam denn auch die Vorladung. Als ich mich für die Fahrt fertig machte, stellte ich mit Ironie fest, dass jedermann an meiner Kleidung den Geistlichen erkennen musste.
Vor dem Gerichtsgebäude stand ein Polizist, der mich kannte. Als er meiner ansichtig wurde, schüttelte er mir freundlich die Hand: "Das ist recht, Herr Pastor, dass Sie auch einmal in diesen Laden hereinschauen; die da drinnen haben es gewiss nötig, dass sie auch mal endlich die rechte Weiche finden!"
Als ich ihm sagte, dass ich auch zu dieser Gesellschaft gehöre, wollte er mir nicht glauben. Erst die Vorladung überzeugte ihn. So brachte er mich in den Vorraum des Verhandlungszimmers.
Da saßen sie nun alle auf der langen Sünderbank. Schuldige Leute: Rabiate und bedrückte, zweifelhafte Existenzen vom Schwarzen Markt, grell bemalte Frauen mit notvollen Gesichtern. Mitten auf der Bank war noch ein Platz. Sollte ich mich zwischen diese Gesellschaft setzen? Ich blieb stehen. Nein, dahin gehörte ich nun doch nicht. Oder?
Wieder öffnete sich die Tür, und der englische Gerichtsoffizier trat ein. Er übersah die Sünderbank und kam sofort auf mich zu. Er fragte mich, ob ich Pfarrer sei. Als ich das bejahte, gab er mir herzlich die Hand und sagte etwas jovial, die Kirche erfasse doch gewiss ihre Stunde, indem sie sich auch hier zur Seelsorge einfinde.
Als ich ihn über den Irrtum aufklären wollte, war es fast noch schwieriger als draußen bei dem Polizisten. Endlich setzte ich mich nun auf die Sünderbank und überreichte ihm die Vorladung. Sein Wohlwollen machte der Amtsmiene Platz. Er nickte mir zu und verließ den Raum.
Die geringe Geldstrafe habe ich gern bezahlt. Wichtiger war mir, dass dieser Tag mir die Erkenntnis der Mangelhaftigkeit meines seelsorglichen Denkens und Handelns geschenkt hatte. Wie kann man zum Kreuz Christi führen, wenn man nach ethischen Maßstäben misst: "Fromm  -  frömmer  -  am frömmsten" und: "Schlecht  -  schlechter  -  am schlechtesten."
Über der Sünderbank, die Gott mit dem Kreuz Christi gebaut hat, steht in Riesenlettern: "Denn es ist hier kein Unterschied; sie alle haben gesündigt und reichen nicht an die Herrlichkeit Gottes heran und werden umsonst gerechtfertigt durch seine Gnade, durch die Erlösung, die durch Jesum Christum geschehen ist."
Nur auf dieser Sünderbank bist und bleibst du ein begnadetes Gotteskind.

Quelle: Hört ein Gleichnis, Heinz Schäfer, Beispiel 128
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