Eva von Thiele-Winckler

Eva von Thiele-Winckler stellte ihr ganzes Vermögen für ihre Kinderheimaten zur Verfügung. Bei ihrem 25. Geburtstag teilte ihr der Vater mit, dass sie nun in den Genuss der Zinsen ihres mütterlichen Erbes träte. "Es war mir bis dahin nie in den Sinn gekommen, dass ich reich wäre", schreibt sie. "Wir waren so einfach erzogen, und nie war von solchen Dingen die Rede. Von dem geringen Taschengeld hatte ich schon seit Jahren soviel als möglich gespart und im letzten Jahre mit den Armen die Armut geteilt. Nun sollte ich reich sein, der Gedanke erschreckte mich. Es war mir, als stünde ich an einem Abgrund, in großer Gefahr. Jesu Wort: 'Währlich, ich sage euch: Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn dass ein Reicher ins Reich Gottes kommt', klang mir wie eine ernste Mahnung, ja wie eine Drohung entgegen. Nein, nein, ich wollte, ich durfte nicht reich sein! Ich wollte nicht das Himmelreich verlieren für irdisches Gut! 'Bei den Menschen ist es unmöglich, aber nicht bei Gott', so hatte der Herr gesagt, und da musste es doch auch eine Möglichkeit geben, trotz des irdischen Reichtums das Himmelreich zu gewinnen. In jener Stunde bat ich meinen Herrn, mich zu bewahren, dass ich nie mein Herz an den Befitz hängen möchte, sondern dass ich besitzen möchte, als besäße ich nicht. Ich weihte ihm all mein Gut und gelobte, nur seine Haushälterin und Verwalterin zu bleiben und mit dem anvertrauten Gut zu dienen. Nun war ich wieder getröstet!" Durch eine Stiftung hat sie sich vom letzten Besitz frei gemacht und der Welt den Anblick einer Dienerin freiwilliger Armut geschenkt.                   
Aus: Stuttgart. Sonnlagsbl. 1937, 34

Eva von Tiele-Winckler schreibt: "Armut - Besitzlosigkeit scheint den meisten das größte Unglück zu sein, ist doch Geld und Gut der Schlüssel zu allen irdischen Möglichkeiten und die Tür zu Einfluss und Macht. Nur wenige verstehen das Geheimnis der freiwilligen Armut, und was sie für den Dienst im Reiche Gottes bedeutet ... Gäbe es mehr wahrhaft apostolisches Leben in unserer Zeit, so gäbe es auch mehr Frucht und Einfluss des Evangeliums in der Welt. Die freiwillige Armut ist ein Zeugnis von dem Siege des Geistes über den Stoff und Eigennutz, von der Freiheit und Unabhängigkeit in Bezug auf alle irdischen Lebensformen und Verhältnisse."

Quelle: Er ist unser Leben: Beispiel- und Stoffsammlung für die Verkündigung, Martin Haug, 1941, Beispiel 148
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