Es wird immer enger

Im Mittelalter gab es eine besonders grausame Art der Hinrichtung. Da wurde der Verurteilte in eine Zelle gesperrt, deren Wände mit einem raffinierten Mechanismus aufeinander zu bewegt werden konnten. Jeden Tag schraubte man sie um ein Stück enger zusammen. Jeden Tag wurde der Raum des Gefangenen kleiner, bis dieser sich nicht mehr bewegen konnte und schließlich elendiglich zerquetscht wurde. Dieses langsame und unaufhaltsame Herankommen der Wände des Todes, dieser zusehends schrumpfende Lebensraum muss eine solch entsetzliche, seelische Belastung gewesen sein, dass die meisten Verurteilten wahnsinnig wurden, bevor sie starben.
Im Grunde verbringen wir Menschen alle unser Leben in einer solchen Zelle, wo die Wände unserer Lebenszeit ständig näher aufeinander zukommen. Wir werden daran erinnert, wenn wir beim Jahreswechsel einen neuen Kalender mit einer neuen Jahreszahl aufhängen oder wenn bei unserem Geburtstag die Alterszahl nach oben rückt. Und eines Tages ist es dann soweit, dass die Wände aufeinander stoßen und die Lebenszeit endet.
Wenn man allerdings nur dies weiß und sieht, dann ist das Dasein trostlos. Dann ist es wirklich wie bei den Verurteilten in der Hinrichtungszelle zum Wahnsinigwerden. Es wäre nicht zum Aushalten. Aber da ist das große Licht, das Gott in dieser Welt angezündet hat mit der Geburt des Christus, der von sich sagte: "Ich bin das Licht der Welt." Von seinem Licht wird auch die Zelle unserer Lebenszeit erhellt, damit wir die Dinge deutlicher sehen und besser verstehen können. Da wird uns bewusst gemacht, dass es sich bei der Begrenzung der menschlichen Lebenszeit nicht um ein sinnloses Eingesperrtsein zum Sterbenmüssen handelt, sondern um die Zuweisung eines besonderen Aufgabenbereiches in dieser Welt.
(Karl Frey)

Quelle: In Bildern reden, Heinz Schäfer, Beispiel 1470
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