Ertragen ja, aber gleich lieben!?
Als ich einmal in meinen Ferien mit meiner Mutter unter den alten Buchen im Garten in Hülben saß, schüttete ich ihr mein Herz aus: "Mama, ich hab's doch so schwer. Da ist so ein alter Kollege, der... och, dieser verknöcherte, alte Mann." Und ich erwartete, dass meine Mutter sagte: Ach, mein armer Sohn! Aber nichts davon, sondern sie erklärte mir - ich fiel beinahe vom Stuhl, als sie es sagte -: "Da will ich den Heiland recht bitten, dass du den auch lieb haben kannst." Ich fuhr auf: "Mama, du kannst den Heiland bitten, dass ich schweigen kann und demütig bin..." Versteht ihr! Den anderen ertragen, ja! Aber gleich lieb haben, das ist ein bisschen zuviel.
Und ich kann euch nur erzählen, wie es mir ergangen ist: Vielleicht acht Wochen später sehe ich in einer Versammlung zwei Reihen vor mir den alten Dr. Sowieso sitzen. Auf einmal muss ich denken: "Er ist doch ein recht einsamer Mann. Die meisten seiner Freunde sind tot. Und wie viel hat er im Leben geleistet!" Dann überkam mich ein herzliches Erbarmen. Eine ganz große Liebe zog in mein Herz. Ich kann sie gar nicht erklären. Als die Versammlung zu Ende war, stand er auf, wir sahen uns, und er kam auf mich zu. Ich merkte, dass es bei ihm genauso war. Er begrüßte mich und sagte: "Ach Bruder Busch, ich habe neulich gedacht, du bist noch so jung, und ich habe so viele Bücher. Du fängst erst an. Komm doch morgen mal und such dir bei mir ein paar schöne Bücher aus."
Von da an begann unsere Freundschaft. Als er pensioniert wurde, saß er jeden Sonntag in meinem Gottesdienst. Und er wünschte, dass ich ihn nach seinem Tod beerdige. Theologisch vertrat er eine ganz andere Richtung, so dass es ein Erstaunen gab, als der junge Pfarrer Busch - ich war noch keine 30 Jahre alt - diese Beerdigung hielt. Aber ich hatte ihn lieb gewonnen. Ich kann dies nicht anders erklären, als dass meine Mutter es erbetet hat.
(Wilhelm Busch, 1897-1966)
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