Er war ein moderner Mensch

Ein moderner Mensch verirrte sich in einer Wüste. Tage- und nächtelang
irrte er umher. Ständig überlegte er: Wie lange braucht man, um zu verhungern und zu verdursten? Die unbarmherzige Sonnenglut hatte ihn ausgedörrt. Er fieberte. Wenn er erschöpft ein paar Stunden schlief, träumte er von Wasser, von Orangen und Datteln. Dann erwachte er zu schlimmerer Qual und taumelte weiter.
Da sah er in einiger Entfernung eine Oase. Aha, eine Fata Morgana, dachte er. Eine Luftspiegelung, die mich narrt und zur Verzweiflung treiben wird, denn in Wirklichkeit ist gar nichts da.
Er näherte sich der Oase, aber sie verschwand nicht. Sie wurde im Gegenteil immer deutlicher. Er sah die Dattelpalmen, das Gras und die Felsen, zwischen denen eine Quelle entsprang.
Es kann natürlich auch eine Hungerphantasie sein, die mir mein halb wahnsinniges Hirn vorgaukelt, dachte er. Solche Phantasien entstehen ja in meinem Zustand. Natürlich  -  jetzt höre ich sogar das Wasser sprudeln. Eine Gehörhalluzination. Wie grausam die Natur ist!
Mit diesem Gedanken brach er zusammen. Er starb mit einem lautlosen Fluch auf die Sinnlosigkeit des Lebens.
Eine Stunde später fanden ihn zwei Beduinen.
"Kannst du so etwas verstehen?" sagte der eine zum ändern. "Die Datteln wachsen ihm ja beinahe in den Mund  -  er hätte nur die Hand auszustrecken brauchen. Und dicht neben der Quelle liegt er, mitten in der schönsten Oase  -  verhungert und verdurstet. Wie ist das nur möglich!"
"Er war ein moderner Mensch", antwortete der andere Beduine. "Er hat nicht daran geglaubt."
Wie nahe ist Gott doch auch dem Menschen unserer Tage  -  und der "moderne" Mensch merkt es nicht!

Quelle: Hört ein Gleichnis, Heinz Schäfer, Beispiel 17
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