Entscheidende Minuten
Bernhard, der kleine Fabrikangestellte, nahm dankend den Umschlag, der sein bescheidenes Monatsgehalt enthielt, aus der Hand des Abteilungsleiters entgegen und steckte ihn in die Tasche.
Drei Minuten, nachdem er aufgestanden war, um sich sein Geld zu holen, saß er wieder inmitten einer Reihe von Arbeitskameraden an seinem Tisch. Die Arbeit ging nicht von der Hand. Bernhard war unzufrieden, man sah es ihm heute ganz deutlich an.
Die anderen, ja, die hatten gut lachen; sie konnten vergnügte Gesichter schneiden und das Einerlei ihrer eintönigen Tätigkeit mit einem Scherzwort, einem kleinen, erheiternden Spaß verbrämen. Denen brachte das achtstündige Ausharren Tag für Tag hinterm Kontortisch ja auch so viel ein, dass sie sich über den eigenen Lebensbedarf hinaus noch etwas gönnen konnten. Er aber, wo blieb er mit seinen lumpigen einhundertsechzig Mark netto? Bei allerhand Einschränkungen gingen sie restlos drauf für Miete, Essen und Trinken, das bisschen Wäsche, den Schuster und die Bahnfahrt. Für irgendein Vergnügen verblieb ihm nicht ein Pfifferling.
Zwar war er der Jüngste im Kontor. Aber kam er nicht seiner Pflicht nach wie jeder andere? Arbeitete er nicht so lang und ebenso gut und zuverlässig wie irgendeiner der vielen, die diesen Raum mit ihm teilten? Hatte nicht Dr. Vogel, sein unmittelbarer Vorgesetzter, ihm wiederholt Lob und Anerkennung ausgesprochen?
"Fahren Sie so fort, Bernhard, und Sie brauchen um Ihre Zukunft nicht zu bangen", sagte er einmal zu ihm.
Das war dem Zwanzigjährigen ein starker Ansporn gewesen.
Seitdem waren nun wieder Monate vergangen, und ereignet hatte sich - nichts. Vor allem: Keine Zulage!
"Na, Bernhardchen, schlecht gefrühstückt?", wurde er plötzlich in seinen trüben Gedanken unterbrochen.
"Lass doch den Kleinen! Hat sicher Liebeskummer!", scherzte und neckte ein zweiter der umsitzenden älteren Kameraden.
"Oder stimmt das Geld nicht?", mischte sich Kurt Tischbein ein.
"Warum soll das nicht stimmen?", fragte Bernhard aufblickend zurück, wobei er einem Kreis auf ihn gerichteter, fröhlicher Gesichter begegnete.
"Kann alles vorkommen, Kleiner, guck lieber mal nach! Du weißt doch: Nachträgliche Beanstandungen und so weiter -", sagte Tischbein lachend.
Eigentlich hat er Recht, dachte Bernhard und holte seinen Gehaltsumschlag hervor.
Ihn mit der linken Hand vor sich hin haltend, tastete er mit der rechten die in der Hülle steckenden Banknoten ab, ohne sie herauszunehmen. Acht an der Zahl mussten es sein, acht Zwanziger, wie er sie nun schon seit Jahr und Tag am Ende eines arbeitsreichen Monats mit nach Hause nahm.
"Musst du ein Bombengehalt kriegen!", stichelte Tischbein, als Bernhard gar nicht fertig wurde mit Zählen, Tasten und Befühlen.
"Stimmt's nicht? Weshalb machen Sie so ein betroffenes Gesicht?", fragte einer.
Da steckte Bernhard hastig Umschlag mit Geld und Zettel wieder zu sich, sprang zum allgemeinen Erstaunen von seinem Stuhl auf und verließ geradezu fluchtartig das
Kontor. Die Kameraden lachten, riefen ihm auch wohl irgendwas nach, aber dafür hatte der junge Mann kein Ohr. Er lief die Treppe hinunter nach dem Erdgeschoss, wo sich anschließend an die Portierloge eine Flucht kleiner Warte- und Empfangsräume, Kojen genannt, für Reisende und sonstige Besucher befand. Da die Sprechzeit längst vorüber war, standen die Kojen leer. In die entfernteste von ihnen schlich Bernhard und schloss die Tür hinter sich, nachdem er noch schnell einen Blick umhergeworfen hatte. Er schob die Kataloge und Preislisten auf dem Tisch beiseite, holte mit zittrigen Händen seinen Gehaltsumschlag hervor, breitete die einzelnen Zwanziger, Note für Note, vor sich aus, las die beiliegende Abrechnung nochmals Zahl für Zahl durch, obwohl ihr Betrag nicht im mindesten von dem gewohnten abwich, und überzeugte sich wiederum von der Richtigkeit der Aufrechnung, die mit dem auszuzahlenden Nettobetrag von einhundertsechzig Mark abschloss. Es waren aber einhundertachtzig Mark.
"Was nun -", dachte Bernhard und stierte das Geld an, das vor ihm lag. Ein Heer bunter Gedanken durchtobte ihn. In der "Kulisse" spielten sie das Sensationsstück vom "Glück, das nimmer endet"; im "Kristall-Palast" lud ein "fabelhaftes" Programm weltberühmter Schaunummern zu einem Abend des Genusses und der Freude ein; der "Botanische Garten" glänzte gar mit einer so genannten italienischen Nacht, sollte in einem Meer von Licht und Farbe erstrahlen, dazu alles, was Herz und Sinne eines jungen Menschen zu begehren vermögen.
Bernhard holte sein Taschentuch hervor und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Zeit und Raum verblassten vor ihm, der Konflikt seines Lebens rüttelte an seinem Gewissen! In einem plötzlichen Entschluss raffte er das Geld zusammen. "Nein, ich will ehrlich bleiben!"
Minuten später stand er vor Dr. Vogel, der durchaus nicht überrascht schien über sein Auftreten zu einer Zeit, da er, wie jedermann im Betrieb wusste, alle Hände voll zu tun hatte.
Befriedigt nahm er das Anliegen seines jungen Mannes entgegen. Den Zwanzigmarkschein, den Bernhard ihm zurückerstattete mit dem Bemerken, dass ihm offensichtlich infolge eines Versehens einhundertachtzig Mark anstatt der ihm zustehenden einhundertsechzig ausgezahlt wurden, legte er zur Seite.
"Hätten Sie Lust", fragte er freundlich, väterlich, "Ihren Posten in der Buchhaltung mit einem solchen an der Hauptkasse zu vertauschen? Man kommt dort mit den vorhandenen Kräften nicht mehr aus, und ich habe Sie bei unserer letzten, vorgestrigen Besprechung als geeignet und - uneingeschränkten Vertrauens würdig in Vorschlag gebracht. Sie kriegen da natürlich Zulage; soviel ich weiß, wird dieser Posten mit zweihundertzwanzig netto bezahlt. Na, wie wär's?"
Bernhard brauchte einige Augenblicke, bis er begriff. Dann sagte er begeistert zu.
"Ich wusste es ja, dass ich mich in Ihnen nicht getäuscht hatte!", beendete Vogel die Unterredung und entließ den Überglücklichen mit warmem Händedruck.
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