Elterliche Schuld am Untergang ihrer Kinder

Vor einiger Zeit - schreibt der Herausgeber des "Nachbar" in einer vor vielen Jahren erschienen Nummer dieses Blattes - hat man in England im Flusse Mersen bei Liverpool den Leichnam eines jungen Mannes gefunden, in dessen Kleidertaschen sich ein Billett des Inhalts fand: "Macht keine Nachforschungen über meine Person. Ich sterbe als Opfer der Trunksucht. Mein Leben ist nutzlos verloren." Als das Gericht den Fund der Leiche bekannt machte, erhielt es über  zweihundert Briefe von besorgten Eltern, die ein solches Ende für ihren verschwundenen Sohn befürchteten!
Als diese Notiz dann durch zahlreiche deutsche Blätter lief, erhielt ich fast gleichzeitig den Brief einer deutschen Mutter, die mir den Tod ihres Sohnes mitteilte. Ich kann ihren Namen nicht nennen, aber ich teile einiges daraus mit und bemerke nur, dass der Brief nicht in der ersten Aufregung des Schmerzes, sondern einige Wochen nach dem Trauerfall geschrieben ist.
"...Dass wir unseren einzigen, hoffnungsvollen Sohn verloren haben, selbst dass er als Selbstmörder starb, ist nicht unser größtes Leid - und Gott weiß, wie groß es ist - aber das größte ist, dass wir uns die Schuld an seinem sittlichen und verzweiflungsvollen Untergange mit beimessen müssen!
In den sorglos glücklichen Verhältnissen, in denen wir lebten, ließen wir ihn von Kindheit auf an unseren Genüssen teilnehmen. Er war zart und schwächlich; Stärkungen durch Bier und Wein schienen schon in seinen Knabenjahren nötig. Bei seiner reizbaren Konstitution und einschmeichelnden Liebenswürdigkeit wagten wir ihm keinen Wunsch abzuschlagen und sahen ihm seine Fehler und Schwächen nach.
Angestrengt von dem Abiturientenexamen, kam er auf die Universität und ich wünschte selbst, dass er sich erhole. Als wir hörten, dass er wenig Kollegien besuche, kümmerte es mich nicht - ich gönnte es ihm, das erste Jahr seiner Gesundheit zu leben - und was wir später von seinem Eintritt in eine Verbindung, von flottem Leben und Trinken hörten, nannten wir "sich austoben" und mein Mann entschuldigte ihn, er habe es selbst ebenso gemacht und sei dann solid und achtungswert geworden.
Als es nach Jahren nicht besser, sondern schlimmer mit ihm ward, kamen Ermahnungen und Vorwürfe zu spät - er war ein Trinker geworden, unfähig zu jeder Arbeit, jeder Erhebung - und weil er das Trinken nicht lassen konnte, erschoss er sich im Gefühl seiner Erniedrigung und Unfähigkeit!
Könnte ich doch allen Müttern sagen, dass sie ihre Kinder von geistigen Getränken fernhalten, allen Vätern, dass sie nicht Nachsicht haben mit studentischen Trinkgelagen, mit ihren Besuchen von "Kneipen" vom Frühstück bis zum Abend!
Es sind durch ihn durchaus keine Verbrechen geschehen, die vor Gericht gehören; aber es lastet doch sein Tod auf uns wie ein Verbrechen, am eigenen geliebten Kinde begangen..."

Quelle: Der ewig reiche Gott, Dietrich Witt, Beispiel 912
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