Eine doppelte Erlösung
In Schlesien liegt das hohe und wilde Sudetengebirge. Dort, in dem sogenannten Gebirgskessel, durch den die wilde und reißende Neiße jähen Laufes herabstürmt, um sich durchs Hochgebirge hindurch eine Bahn nach der Oder zu suchen, liegt die früher für uneinnehmbar gehaltene preußische Festung Glatz: ein von Menschenhänden erbautes Festungswerk mitten in einer von Gottes Hand mit hohen Bergketten als Wällen aufgeführten, natürlichen Festung, wie es auf Erden wohl kaum eine zweite gibt.
Der Glatzer Kessel ist durch seine natürliche Lage von der Welt sehr abgeschieden; wer aber hinter den dicken Mauern und Eisengittern der Festung Glatz sitzt, der ist wie ein aus der Menschenwelt ausgestoßener, lebendig Begrabener. Alles, was sich seinen Blicken noch darstellt von der Welt, ist eine ungeheure Festung, aus der es kein Entrinnen mehr gibt. Wehe dem Armen, der hier in Glatz gefangen sitzt! Alles ruft ihm zu: "Keine Hoffnung gibt's für dich! Keine Hoffnung!"
Ohne Hoffnung war denn auch der Oberst v. M., der im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts auf der Festung Glatz hinter Schloss und Riegel saß. Landesverrat und Majestätsbeleidigung hatten ihn dahin gebracht. Er hatte durch sein Tun und namentlich durch persönliche Angriffe auf den König Friedrich Wilhelm III. die Ungnade dieses Monarchen über sich heraufbeschworen und war von den Gerichten auf Lebenszeit zu einsamer, schwerer Kerkerhaft verurteilt worden. Jahrelang saß er schon in seinem einsamen Kerker, ohne Trost, ohne Hoffnung. Kein Hoffnungsstern leuchtete am Himmel seines inneren Lebens; denn er war ungläubig und geistlich tot. Man hatte ihm nur ein Buch gelassen, nämlich die Bibel. Aber anfangs las er gar nicht darin, und als er sie später öffnete und darin las, geschah es nur, um die Zeit totzuschlagen und um sich der nagenden Langeweile zu erwehren. Ja, es geschah sogar oft mit Ingrimm und Zähneknirschen gegen den Gott, den die Bibel uns verkündigt.
Aber die Not, die bittere Not, dieses Hirtenhündlein Gottes, das schon manches verirrte Schaf zum guten Hirten zurückgebracht hat, brachte auch den Obersten v. M. zu ihm zurück. Je länger er in einsamer Stille in der Bibel las, desto mehr empfand er das sanfte Anschmiegen der milden Hand Gottes an sein ödes und trostloses Herz.
Es war eine raue und stürmische Novembernacht. Vom Riesengebirge her heulte der Sturm um die Mauern der Festung; der Regen kam in Strömen herab; immer wilder tobend rauschte drunten die wilde schäumende Neiße vorbei. Schlaflos lag der Oberst auf seinem Lager; wie es da draußen stürmte und tobte, so stürmte und tobte es auch drinnen in seiner Brust. Sein ganzes verfehltes Leben zog an seiner Seele vorüber. Er gestand sich, dass er mannigfaltig gefehlt und gesündigt hatte, er gestand sich, dass das "Gott verlassen haben" seines Elendes Anfang und Ursache sei. Zum erstemal in seinem Leben wird sein Herz weich und sein Auge feucht von Tränen der Buße. Er erhebt sich vom Lager und schlägt die Bibel auf. Sein erster Blick fällt auf Psalm 50,15: "Rufe Mich an in der Not, so will Ich dich erretten und du sollst Mich preisen."
Da wird der Gefangene im tiefsten Grunde seiner Seele ergriffen, er sinkt auf die Knie und tut, was er seit seiner Kindheit nicht mehr getan hat: er betet. Und der gnädige und barmherzige Gott, der auch die leiseste Glaubensregung nicht verachtet, hat des Rufen dieses Elenden, das aus der sturmumtobten Feste des Glatzer Gebirgskessels zu Ihm drang, gehört, wie jener bald erfahren sollte.
In derselben Nacht lag der König Friedrich Wilhelm III. von Preußen in seinem Schlosse zu Berlin schlaflos im Bett. Heftige Leibschmerzen peinigten ihn und ließen keinen Schlaf über ihn kommen. Er bat in großer Ermattung Gott, ihm nur eine Stunde erquickenden Schlafes zu gönnen. Sie wurde ihm gewährt. Als er nun, vom Schlafe erquickt, wieder erwachte, sprach er zu seiner Gemahlin, der hochherzigen Königin Luise: "Gott hat mich eben so freundlich angesehen und ich möchte Ihm gerne dafür dankbar sein. Wer ist wohl in meinem Reich, der mich am tiefsten gekränkt hat? Ich will ihm vergeben."
"Der Oberst v. M., der in Glatz sitzt!", versetzte Luise.
"Richtig," sagte der kranke König; "er sei begnadigt!"
Noch graute der Tag nicht über Berlin, da ritt schon ein Eilbote aus dem Brandenburger Tor Schlesien zu, um dem Gefangenen von Glatz seine Freiheit zu bringen.
Ja, Gott lebt! Er hört das Schreien seiner Kinder und noch ehe sie rufen, recht rufen, antwortet er schon.
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