Ein treuer Hirtenknabe
Gerhard war nur ein Hirtenknabe, der tagsüber seine Schafherde auf einsamen Berghängen oder in abgelegenen Tälern hütete. Natürlich war er sehr arm, aber er empfand es gar nicht sonderlich, denn er fühlte sich am glücklichsten, wenn er draußen weitab von allen menschlichen Siedlungen mit seinen Tieren Zwiesprache halten konnte. Damals, als sich diese Geschichte zutrug, gab es in dem Gebirge noch Wölfe und Bären, und da hatte Gerhard, obwohl er noch jung war, schon manchen Strauß mit den Raubtieren ausfechten müssen und ihnen manche Beute entrissen. An Mut fehlte es ihm wahrlich nicht, und da er in seinen beiden Hunden treue und wackere Wächter und Gehilfen hatte, blieb seine Herde auch einigermaßen verschont vor den Gelüsten der Räuber.
Eines Tages weidete der Knabe seine Schafe in einem Tal, das sich in einen tiefen, dunklen Wald vorschob, der an diesem Nachmittag geheimnisvoll und drohend dalag. Da kam ein Jäger aus dem dichten Gehölz gerade auf den Hütebub zu und fragte:
"Wie weit ist's bis zum nächsten Dorf, Junge?"
"Zwei Stunden, mein Herr", erwiderte Gerhard, der des öfteren einen Jäger zu Gesicht bekam. "Von hier führt aber nur ein Fußpfad dorthin. Wenn Sie ihn nicht kennen, können Sie ihn leicht verfehlen."
Der Jäger schaute auf den Weg, den der Knabe ihn wies. Dann sagte er: "Ich bin sehr hungrig und durstig. Durch die Jagd habe ich meine Gefährten verloren und bin vom Weg abgekommen. Lass deine Schafe hier und führe mich den Weg. Es soll gewiss nicht dein Schaden sein, das verspreche ich dir."
"Ich kann doch die Schafe nicht allein lassen, mein Herr", versetzte Gerhard, der über dieses Ansinnen erschrak. "Was meinen Sie, die Tiere könnten in den Wald laufen, so dass ich sie nicht mehr finden kann, oder Wölfe könnten sie überfallen und fressen, oder Diebe machen sich an sie heran."
"Das kann dir doch gleich sein, mein Junge", versuchte der Jäger ihn zu überreden. "Hauptsache ist, dass du keinen Nachteil davon hast. Schau, die Schafe gehören dir doch nicht, und dein reicher Herr merkt es überhaupt nicht, wenn ein Tierchen fehlt. Außerdem sollst du so viel verdienen, wie du im ganzen langen Jahr nicht Lohn empfängst."
Gerhard hatte den Verlockungen mit wachsendem Erstaunen zugehört. Schließlich aber schüttelte er den Kopf. "Ich kann nicht weggehen", versicherte er treuherzig und war traurig über die Unvernunft des Erwachsenen. "Mein Herr hat mir seine Schafe anvertraut, und ich habe ihm versprochen, dass ich sie nie verlassen werde. Dafür bezahlt er mir meine Zeit. Wenn ich jetzt mein Wort nicht halte, dann bin ich treulos und außerdem ein Dieb, denn ich stehle meinem Herrn die Zeit."
Da musste der Jäger doch lachen. "Du bist ja ein sonderbarer Heiliger", rief er aus, "aber wie du es so schilderst, will mir fast scheinen, als ob du Recht hast. Nun, da mache ich einen anderen Vorschlag. Ich bleibe bei deinen Schafen und passe auf sie auf. Während dieser Zeit läufst du ins Dorf, holst mir etwas zu essen und zu trinken und bringst mir einen Führer mit."
Aber wieder schüttelte Gerhard den Kopf. "Ich soll meine Schafe verlassen? Nie und nimmermehr! Die Schafe kennen mich ganz genau, sie achten auf meine Worte, auf meine Stimme. Aber Ihre Stimme kennen sie nicht und..." Er hielt in seiner Rede inne.
"Na weiter, Junge, weiter! Was noch? Du hältst mich wohl für einen unehrlichen Menschen, wie? Ich sehe wohl wie ein Lump aus?" Der Jäger schien richtig aufgebracht zu sein.
Aber der Hütebub ließ sich nicht einschüchtern. Ruhig und entschieden blieb er sitzen, als er entgegnete: "Zuerst wollten Sie, dass ich mit Ihnen die Herde verlassen sollte, und meinten, so genau brauchte ich es nicht mit der Treue meinem Herrn gegenüber zu nehmen, der habe immer noch genug Schafe, auch wenn ein oder zwei durch meine Schuld umkämen. Dann wollten Sie, daß ich mein Wort, dass ich meinem Herrn gegeben habe, nicht einlöse. Und nun wollen Sie, dass ich Ihnen meine Schafe anvertraue, obwohl ich Sie überhaupt nicht kenne. Wie soll ich da glauben, dass Sie Ihr Versprechen halten werden?"
Richtig in Eifer hatte sich der Junge geredet, und sein Gesicht war vor Erregung ganz rot geworden. Das sah so spaßig aus, dass der Jäger lachen musste, zumal er zugeben musste, dass der Hirtenknabe ihn völlig in die Enge getrieben hatte. So lenkte er nun begütigend ein: "Ist ja alles in bester Ordnung, mein Junge. Ich sehe, dass du ein guter, treuer Hirte bist. Nun zeige mir den Weg und gib mir die genaue Richtung an. Dann will ich versuchen, mich allein zurechtzufinden. Deinen versprochenen Lohn aber sollst du doch noch von mir erhalten."
Nun war Gerhard wieder froh. "Nichts für ungut, lieber Herr", sagte er bescheiden. "Aber wenn ich von meinen Schafen fortgehe, wissen sie nicht mehr, was sie anfangen sollen. Nehmt mir's nicht übel!"
Auf einmal erinnerte er sich, dass der Jäger hungrig war. Deshalb öffnete er seine Brottasche und bot dem Manne einen Imbiss an. "Wenn Sie solch schwarzes Brot nicht verschmähen, will ich es gern mit Ihnen teilen", sagte er.
Das ließ sich der Jäger nicht zweimal sagen. Er griff herzhaft zu und versicherte dem Knaben, dass ihm seit langem kein Frühstück so gut geschmeckt habe wie dieses. "Das ist immer so, wenn man es ehrlich isst", belehrte ihn der kleine Hirte.
Wie erstaunte und erschrak Gerhard aber, als die Gefährten des Jägers völlig unerwartet auftauchten und es sich herausstellte, dass der schlichte Jäger niemand anders war als der Herzog, dem das Fürstentum gehörte! Er hatte in der kurzen Zeit den ehrlichen Hütebub so lieb gewonnen, dass er ihn einige Tage später von den Schafen fortholte und ihm eine ausgezeichnete Erziehung und Ausbildung zuteil werden ließ. Obwohl Gerhard später ein geachteter Mann wurde, schämte er sich niemals der Schafe, die er als Knabe in der Einsamkeit des Gebirges gehütet hatte, und blieb bis zu seinem Tode stets ehrlich und treu.
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