Ein treuer Hirte
In einer Nacht kommt einer der Wächter, es war einer seiner früheren Konfirmanden, der sich um des täglichen Brotes willen zum Gefängnisdienst hatte werben lassen, zu Pfarrer Baucker-Wesenberg und flüstert ihm zu: "Kommen Sie mit mir, ich will Ihnen zur Flucht verhelfen. Ich habe es eben sicher erfahren, morgen früh werden alle 300 hingerichtet, Sie auch - noch ist es Zeit, kommen Sie schnell." Baucker antwortet ihm ohne Besinnen: "Hab' Dank - doch gehe allein, ich bleibe. Konnte ich bisher den armen 300 Stärkung bieten - morgen, wenn sie den schwersten Gang tun, muss ich erst recht bei ihnen bleiben."
So blieb er und hat die Genossen in dieser Nacht zum Sterben zubereitet. Stolz und gefasst zog er mit 300 Gefangenen zur Richtstätte. Auf dem Richtplatze, als schon die Flinten und Maschinengewehre auf sie gerichtet waren, stimmte Baucker das Lied an: "Lasst mich gehen, dass ich Jesum möge sehen."
Die rotgardistischen Soldatenhenker stutzten, sie gaben kein Feuer. Sie wurden angebrüllt: "Schießt!" Sie zögerten, zu wunderbar klang die liebliche Weise, zu ergreifend war der Gesang von 300 Todgeweihten. - Endlich, da der zweite Vers anhub: "Süßes Licht, Sonne, die durch Wolken bricht, o wann werd' ich dahin kommen" - da krachen die Salven. Der große Augenblick war gekommen, "da die Herde und ihr Hirt - im Glauben, Herr, an dich - zusammen selig wird".
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