Ein standhafter Junge

Eine besorgt aussehende junge Frau setzte ihren kleinen Jungen in einen Straßenbahnwagen mit der Mahnung: "Verliere ja den Zettel nicht, Hans, nimm ihn gar nicht aus der Tasche." 
"Nein", sagte der Junge, während er ängstlich seiner Mutter nachschaute und der Schaffner das Zeichen zur Weiterfahrt gab. 
"Wie heißt du, Hans?", fragte ein übermütiger junger Mann, der neben ihm saß. 
"Hans Georg Fröhlich", antwortete er. 
"Wohin gehst du?" 
"Zu meiner Großmutter." 
"Zeig mir mal den Zettel, den du in der Tasche hast." 
"Ich tu es nicht", sagte Hans. 
"Sieh mal, Hans, ich schenke dir diese Pflaumen, wenn du den Zettel aus der Tasche herausziehst." 
Das Kind gab keine Antwort, aber einige der Mitfahrenden schauten ärgerlich auf den jungen Mann. 
"Hör mal, Junge, ich gebe dir die ganze Tüte voll Pflaumen, wenn du mir ein Eckchen von dem Zettel zeigst", sagte der Versucher. Das Kind wandte sich ab, es wollte nicht mehr hören, aber der junge Mann öffnete die Tüte und hielt sie so, dass es die saftigen Früchte sehen und ihren Duft einatmen musste. Das kleine runde Gesicht sah bekümmert aus; ich glaube, Hans fühlte seine Widerstandskraft erlahmen, und als auf der andern Seite des Wagens ein Mann aufstand, um auszusteigen, schlüpfte er eilig von seinem Platz herunter, ließ die Versuchung hinter sich zurück, und dann kletterte er auf den leergewordenen Sitz. Fast unbewusst fingen ein paar Hände an zu klatschen, und die andern fielen ein und erschreckten fast den armen Hans, aber eine junge Dame, die neben ihm saß, legte zärtlich ihren Arm um ihn und sagte: "Sage deiner Mutter, wir alle gratulieren ihr zu einem solchen kleinen Mann, der stark genug ist, der Versuchung zu widerstehen und weise genug, davor wegzulaufen."

Quelle: Er ist unser Leben: Beispiel- und Stoffsammlung für die Verkündigung, Martin Haug, 1941, Beispiel 2391
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