Ein Kleinkind vor dem Spiegel

Vor einigen Jahren stellte ich meinen kleinen Jungen einmal vor einen großen Spiegel. Zunächst erkannte er sich nicht darin, weil er noch zu klein und zu dumm dazu war. Er freute sich nur sichtlich über das liebenswürdige Gegenüber, das ihn aus der gläsernen Wand anlächelte. Bis sich auf einmal der Ausdruck seines kleinen Gesichtes veränderte und er an der Parallelität der Bewegungen zu merken schien: Das bin ich selbst.
So mag es uns auch mit der Geschichte vom verlorenen Sohn gehen. Wir hören sie zunächst wie eine interessante Novelle, mit der wir selber nichts zu tun haben. Ein etwas merkwürdiges, aber fesselndes Gegenüber, dieser verlorene Sohn! Zweifellos lebenswahr, zweifellos ein bestimmter Typ von Mensch, dem wir alle schon einmal begegnet sind. Und sicherlich haben wir inneren Abstand genug, um ein wenig Mitleid mit ihm zu empfinden.
Bis auf einmal auch unser Gesicht sich verstellen mag und wir erkennen müssen: Dieser da bin ich selber, tatsächlich: Ich und kein anderer. Auf einmal haben wir den Helden dieser Novelle identifiziert, und nun können wir diese ganze Geschichte in der ersten Person lesen. Wahrhaftig, eine nicht geringe Sensation!

Quelle: In Bildern reden, Heinz Schäfer, Beispiel 1183
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