Ein Hotelbesitzer speist die Armen der Stadt

Es gibt Geschichten, die das Leben schreibt und die für sich allein sprechen. Die folgende erlebte ein Mann in dem spanischen Städtchen Gijon an der Biskaya. Auf einer Geschäftsreise war er dort in einem Hotel eingekehrt. Der Wirt, Don Emanuel, begrüßte ihn höflich. Nach dem Mittagessen hatte sich der Gast in die Halle zum Kaffee ans Fenster gesetzt. Müde und etwas Unterhaltung suchend ging sein Blick auf die kleine Straße vor dem Fenster. Gegenüber stand ein altes, palastähnliches Gebäude. Einige Steinstufen rührten zu einem von Säulen getragenen Vorbau. Nicht lange, da erschien zuerst eine ältere Dame mit einem reichlich abgetragenen Kleid, dann folgte ein Mann auf Krücken. Kurz danach kamen Kinder in lumpigen Kitteln, wieder ein paar Greise und alte Frauen. Sie ließen sich alle auf den Stufen nieder. Kaum hatte der letzte Platz genommen, da erschien im Hoteleingang, der dunkel in die Straße mündete, eine eigenartige Prozession. Voran Don Emanuel, feierlich schwarz gekleidet, eine blütenweiße Serviette unter dem Arm. Ihm folgten Kellner und Mägde mit vollgefüllten Schüsseln und wohlgerichteten Platten, ganz so, als hätten sie eine Hochzeitstafel anzurichten. Der Zug ging direkt auf die Menschen auf den Steinstufen zu. Teller und Bestecke wurden verteilt. Dann bediente der Hotelier eigenhändig jeden seiner Gäste, so, als habe er die beste Gesellschaft vor sich. Fachkundig beriet er sie, empfahl diese und jene Zusammenstellung des Essens, und jeder dieser Armseligen konnte ganz nach Wunsch und Belieben wählen. Am Ende wurde abserviert, nicht anders als im Speisesaal des Hotels. Die Gäste gingen wieder ihres Wegs. Don Emanuel aber zog mit dem in Körben eingesammelten Geschirr in sein Hotel zurück.
Natürlich forschte der Gast nach dem Sinn dieser höchst seltsamen Vorgänge. Was er nun erfuhr, war nicht weniger seltsam. Er hörte, dass Don Emanuel während des letzten spanischen Bürgerkriegs, kurz vor Ausbruch des zweiten Weltkriegs, von den Aufständischen an die Wand gestellt worden war. Er sollte erschossen werden und wusste nicht warum. Vielleicht wussten es seine Gegner auch nicht. Er konnte nur den Tod erwarten.
Da tauchte plötzlich vor dem Exekutionskommando ein Krüppel in Lumpen auf. Er redete wie toll auf die Männer mit den Gewehren ein. Und wirklich, sie ließen Don Emanuel laufen. Nie hat er seinen Retter wiedergesehen, noch wusste er überhaupt, wer dieser war. Aber er tat das Gelübde: "Die Armen des Städtchens nicht nur zu speisen, sondern auch zu ehren."
Als der Reisende dieses gehört und dazu noch erfahren hatte, dass sich diese Speisung Tag für Tag ereigne, konnte er nun doch nicht umhin, den Wirt selber darüber zu befragen, warum er das täglich tue.
Der Wirt antwortete: "Meine Frau meinte im ersten Augenblick, da sie von meiner Absicht hörte, es möchte doch genügen, wenn ich an jedem Jahrestag meiner Rettung diese armen Leute zu Gast lade, oder doch alle Vierteljahr einmal. Aber sagen Sie selbst, hat mir Gott mein Leben nur für alle Jahrestage geschenkt? Oder für alle Vierteljahrestage? Hat er es mir nicht Tag um Tag wiedergegeben durch jenen Krüppel, der nicht einmal den Versuch gemacht hat, sich bei mir für seine Tat Lohn zu holen, wohlverdienten, gar nicht abzutragenden Lohn? Er hat mir das Leben wieder geschenkt. Ich glaube, das Geschenk kann ich überhaupt nicht vergüten."
Nicht alle Menschen hätten so gehandelt. Meistens heißt es: "Aus den Augen, aus dem Sinn!" Man vergisst leicht Wohltat und Wohltäter. Dankbare Menschen sind selten, besonders dann, wenn es um Dank gegen Gott geht. Wir sind vergesslich und wissen nicht mehr, was wir Gott, dem Schöpfer und Erhalter unseres Lebens, für seine Freundlichkeit und Güte zu danken haben.
Darum mahnt uns der Psalmist: "Danket dem Herrn, denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich."

Quelle: Mach ein Fenster dran, Heinz Schäfer, Beispiel 748
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