Ein Heilmittel für den Geiz

Sybel, mein Freund, schenkt sehr viel. Wenn er mich besucht, bringt er den Kindern stets Bilder, Hefte, allerlei gutes mit zum schnabulieren, Ansehen, Lesen. Wenn ich ihn besuche, sagt er zum Abschied: "Nun will ich dir auch zur Erinnerung an deinen Besuch ein Gastgeschenk geben, hier nimm das Buch, es ist gut zum lesen, der Titel ist das Langweiligste dran, und hier nimm das und das für deine Spatzen mit, die sind auf so was aus, ich kenne sie." 
Es ist mir noch nicht gelungen, mit ihm zusammenzukommen, ohne von ihm beschenkt zu werden. Mag auch die Gabe bescheiden sein, aber wie er es gibt, ist immer freundlich, geht ins Herz und knüpft ein feines Band. Kürzlich ward es mir doch bald zu viel, und ich rief: "Nein, aber nun höre auf, immer beschenkst du mich, das ist ja gar zu schlimm, ich kann dir ja das Hundertste nicht wiedergeben..." 
"Ja, weißt du", entgegnete er, "verstehe recht, ich bin von Natur sehr geizig, und als ich den Fehler einsah, sagte ich mir: weil du geizig bist, musst du immer gerade recht viel wegschenken, das wird dann ein kräftiges Mittel sein gegen deinen schlimmen Geiz. Jetzt weißt du es: ich bin ja gar nicht freigebig! Ich bin so geizig, o wenn du es wüsstest! Aber damit es niemand merkt, wie geizig ich bin und wie sparsam, so schenke ich immer viel weg."
Aus: Friedrich, "Fünzig Liebesgeschichten"

Quelle: Er ist unser Leben: Beispiel- und Stoffsammlung für die Verkündigung, Martin Haug, 1941, Beispiel 1021
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