Ein gewaltiger Sieg

 Der Sarg war eigentlich nur ein ärmlicher, schwarzer Kasten aus Tannenholz. Auf dem Deckel lagen keine Kränze, und auch das schlichte Totenkleid war nicht mit Blumen geziert. Die arme Frau aber, die unendlich viel Schweres durchgemacht und viel Leid erduldet hatte, lächelte nun im Todesschlaf.
Sie war als Witwe dem Lebenskampf nicht gewachsen gewesen und an dem Elend, das über sie hereingebrochen war, schließlich zugrunde gegangen. Ihr Schicksal ähnelte dem vieler Frauen, die ebenfalls als Folge des ersten Weltkrieges ihre Männer verloren hatten und weder in der Heimat noch in der Fremde wieder Wurzeln fassen konnten.
Nun hatte sie endlich Frieden. Ihr Junge aber, der vielleicht zwölf Jahre als sein mochte, konnte es nicht fassen, dass seine Mutter ihn niemals wieder anblicken würde. Fassungslos hatte er neben dem Totenbett gestanden und die kalten Wangen und Hände der Mutter zu wärmen versucht. Als die Männer die Tote in den Sarg legten und zur Leichenhalle brachten, war er ihnen in wildem Schmerz nachgelaufen und hatte sie angebettelt, ihm seine Mutter zu lassen.
Als jetzt der städtische Totengräber in die Leichenhalle trat und den Deckel anschraubte, lief das Kind herbei und hing sich an seinen Arm. "Ich möchte meine Mutter noch einmal sehen!", flehte er und versuchte, den Deckel zu heben.
"Mach, dass du wegkommst Bengel!", rief der Mann zornig. "Du kannst deine Mutter jetzt nicht mehr sehen, dafür ist es zu spät!"
Aber der Knabe ließ sich nicht abweisen. Schluchzend bettelte er: "Ach, nur einen kleinen Augenblick - meine liebe, liebe Mutti!" "Ist denn niemand von euch fähig, den Kerl rauszuwerfen?" herrschte der Totengräber die Männer an, die mit ihm in der Halle waren und das Grab geschaufelt hatten.
"Nur eine Minute, bitte, bitte, lieber Mann!", flehte und jammerte der unglückliche, heimatlose Waisenknabe nochmals und hielt sich an einer Seite des Armensarges fest. Als er in das rohe Gesicht des Mannes blickte, strömten Tränen über seine Wangen, auf denen noch nie kindliche Frische geruht hatte. Herzergreifend klang seine Bitte: "Nur einmal noch! Lass mich meine Mutter nur noch einmal sehen!" Der Mann schüttelte den Knaben wütend ab und stieß ihn mit solcher Gewalt weg, dass er hinfiel. Rasch fasste sich der Kleine wieder. Er erhob sich, aber nun glühte Hass in seinen kindlichen Augen auf. Weinen vor Schmerz und Wut hob er seine schwachen Arme empor, ballte die Hand zur Faust und schrie in einem Ton, der nichts Kindliches mehr hatte: "Wenn ich groß bin, werde ich dich dafür umbringen!"
Zwischen der Mutter und ihrem armen, verlassenen Kinde wölbte sich bald der Grabhügel. Kein Stein und kein Kreuz zierte ihn. Aber in seinem Herzen baute der Knabe ein Denkmal auf, das härter war als Granit: Die Erinnerung an diese gemeine Tat. 
***
Die Jahre kamen und gingen. Sie brachten Freude und Leid, Glück und Sorgen, Leben und Tod.
Heute war ein interessanter Tag für die Bewohner der Stadt. Der große Saal des Landgerichtes war überfüllt. Vor dem Richter stand ein wüster Geselle, der dem Alkohol verfallen war und keinerlei Sympathie weder bei den Geschworenen noch bei dem Publikum besaß. Er wurde eines Mordes verdächtigt, und da er selbst der Gerichtsverhandlung nicht zu folgen vermochte und sich durch seine Aussagen immer mehr verwirrte und belastete, schien seine Verurteilung sicher zu sein. Nur in dem einen blieb er unbeugsam: Er beteuerte bei all seinen Widersprüchen seine Unschuld.
"Wer soll denn das bezeugen?" Der Vorsitzende des Gerichtes sprach es skeptisch und sorgenvoll aus. Auch er wusste noch nicht, wie sich der Knoten lösen würde. 
Schließlich entschloss sich der Richter zu dem ungewöhnlichen Schritt, sich an das Publikum zu wenden. "Will jemand von den Zuhörern diesen Mann verteidigen oder seine Aussagen bezeugen? Ich verhehle nicht, dass die Indizien gegen ihn sprechen", sagte er. Eine Zeit lang lag tiefes Schweigen über dem Saal. Da trat ein junger Mann vor, auf dessen Gesicht der Ausdruck großer Klugheit ruhte. Seine Lippen waren fest geschlossen, als er sicher und ruhig zum Zeugenstand ging. Er wies sich als Jurist aus und bot sich an, den Angeklagten, der keinen Freund und Helfer hatte, zu verteidigen. Die Leute im Zuhörerraum steckten überrascht die Köpfe zusammen und tuschelten unter sich: "Wer ist denn das?" Aber niemand kannte ihn. Als er nun zu reden begann, herrschte vollkommene Ruhe.
Der junge Mann riss durch sein Redetalent, die Überzeugungskraft seiner Darlegungen und seiner Beweisführungen nicht nur das Publikum mit, sondern entwirrte gleich den Knoten, an dem der Richter verzweifeln wollte. Die Gesichter der Geschworenen wurden immer freundlicher und als der junge Mann schließlich schloss geschah das Unerwartete: Der Staatsanwalt zog seine Anklage zurück, so dass der Angeklagte wegen erwiesener Unschuld freigesprochen wurde. -
Die Angelegenheit hatte jedoch ein kleines, seltsames Nachspiel. Auf dem Gang des Landgerichts umringten die Leute den Fremden, der so wacker und warm für den Angeklagten gesprochen hatte. Glücklich, mit heiler Haut davongekommen zu sein, ging der roh und verkommen aussehende Mann auf ihn zu. "Möge Gott Ihnen ihre Güte vergelten, ich kann es leider nicht, werter Herr", sagte er mit einer Stimme, die von übermäßigem Alkoholgenuss zerstört war. Die Leute schauten auf. Da hörten sie, wie der junge Mann antwortete: "Ich erwarte von ihnen auch nichts, gar nichts." 
Aber in seinen Augen lag etwas, was den anderen verwirrte. Er stammelte: "Warum haben Sie mir eigentlich geholfen? Ich bin ihnen doch fremd?"
"So wirklich? Nun, lassen wir es dabei bewenden. Auf Wiedersehen!" Die Stimme klang merkwürdig belegt. Doch darauf achtete niemand, auch nicht darauf, dass sich der junge Mann fast unvermittelt verabschiedete. Wer sollte schon ahnen, was in ihm vor sich ging, der vor vielen Jahren von dem soeben Freigesprochenen mit Schlägen und Flüchen vom Sarge seiner Mutter vertrieben worden war? Aus dem Gesicht des Juristen war alle Farbe gewichen, so stark übermannte ihn die Erinnerung.
"Nein, das ist vorbei! Endgültig vorbei!" Vor innerer Erregung stürmte er zur Stadt hinaus und lief querfeldein. Allmählich fand er seine Ruhe wieder. Als er endlich zurückkehrte, war der Sieg errungen. Nun hatte er seine Genugtuung einem Menschen gegenüber, dessen rohe Tat er währen seiner ganzen Jugend nicht vergessen konnte. "Möge Gott ihm gnädig sein", dachte er. "Ich habe ihm verziehen, er ist ja schon genug bestraft."
Durch sein gewandtes und mutiges Auftreten vor Gericht hatte er sich in der Stadt viele Freunde erworben, die ihn überredeten, sich als Rechtsanwalt und Notar niederzulassen. Er wurde ein angesehener Bürger, dem die Liebe seiner Mitmenschen entgegenschlug. Sein besonderes Bemühen aber galt dem ehemaligen Totengräber. Indem er ihm Arbeit und Unterhalt beschaffte, bewahrte er ihn davor, wirklich ein Verbrecher zu werden.

Quelle: Lebensbilder, Paulus Langholf, 1960
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