Ein Eichbaum mit Epheu bewachsen
Gotthold sah einen fast dürren Eichbaum mit Epheu bis an die obersten und meisten Zweige bewachsen. Ei, sprach er bei sich selbst, das Gewächs ist wol ein rechter Nahrungsdieb, welches dem Baum allmälig vermittelst seiner Fasern, die es ihm in die Rinde getrieben, den Saft entzogen und also mit dessen Schaden sich groß gemacht hat; ein wahres und eigentliches Bild eigennütziger, listiger Leute, die andern, zuweilen denen, die ihnen erst aufgeholfen, die Nahrung abwassern und sie zu dürren Bäumen machen. Noch fiel ihm ein, daß hierinnen ihm die schnöde und höchst schädliche Fleischeslust vorgestellt würde, welche den Menschen gleichsam umarmt, faßt und ihm aufs geschwindeste alles Geblüt und Gemüth einnimmt, bis er ein fauler und dürrer Baum, der abgehauen und ins Feuer geworfen wird. Er gedachte an das Wort Petri: Enthaltet euch von fleischlichen Lüsten, welche wider die Seele streiten. 1. Petr. 2, 11.
Indem er weiter ging, erinnerte er sich, daß dieser Baum ihm auch der Eltern und Kinder Beschaffenheit zierlich abbilden könnte. Die Eltern zeugen die Kinder mit Schmerzen und Traurigkeit, erziehen sie mit Sorgfältigkeit, ernähren sie mit saurer Arbeit, verheirathen sie mit Kostbarkeit, und werden darüber alt und kalt, arm und dürftig, geben oft den Kindern das Brod und leiden selbst Noth. Böse Kinder aber sind es, die nicht wie dieser Epheustrauch den alten dürren ausgesafteten Baum bedecken, ich will sagen, die nicht die alten, armen, schwachen Eltern mit Wohlschicken erfreuen, von ihren Bissen sie speisen, aus ihrem Becher sie tränken, mit ihrer Hülle sie decken und mit kindlicher Liebe und Ehre bis an ihr Ende ihnen begegnen. Hilf, mein Gott! daß ich mich vor Eigennutz, schnöder Lust und Undankbarkeit gegen meine wohlverdienten Eltern hüte! Laß mich wachsen in deiner Gnade und Segen, daß ich auch meinen Baum mit Ehre und Liebe stets umfangen und beschatten möge!
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