Edelsteine in meiner himmlischen Krone

Ich wurde einmal von einer Krankenschwester gepflegt, die ihre Arbeit ausgezeichnet, pünktlich und mit Aufopferung tat. Sie hatte seit zwanzig Jahren nur Nachtschichten übernommen. Ich fragte sie einmal, ob das nicht sehr anstrengend sei und einen nicht auf die Dauer zermürbe, und wie sie die Kraft dazu habe. Da meinte sie strahlend: "Sehen Sie, jede durchwachte Nacht ergibt einen Edelstein in meiner himmlischen Krone, und ich habe schon jetzt 7175 beieinander."

Wie kam es, dass meine Dankbarkeit mit einem Schlage verflogen war, dass ich an ihre Liebe nicht mehr glauben konnte und dass das Gefühl der Geborgenheit plötzlich verschwand? Wenn sie sich anschickte, mir zu helfen, dann meinte ich, sie sähe durch mich hindurch wie durch Luft, und ihre Augen hingen heimlich an ihrer himmlischen Krone, um sich an ihrem Gefunkel zu freuen.

Ist es nicht schrecklich, dass ein Mensch, indem er das Fromme tut, indem er um das Wohlgefallen des Vaters arbeitet, seinen Nächsten verachten und ihn beleidigen kann? Denn das tat doch diese Schwester offenbar: Die Kranken, die sie pflegte, waren ihr Mittel zum Zweck. Sie sah sie nicht mit den Augen Jesu an, den ihr Elend jammerte und dem es keine Ruhe ließ, dass die Kinder seines Vaters im Himmel den Verderbensmächten der Krankheit, des Leides und des Todes ausgesetzt waren, und der sein Leben daran setzte, um sie in das leidlose und todüberlegene Reich seines Vaters zu bringen. Sondern diese Schwester "bediente" sich doch ihrer Kranken wie eines Materials. Sie berauschte sich daran, dass sie durch die wertvolle und tüchtige Arbeit - denn dass sie eine tüchtige Pflegerin war und blieb, daran lässt sich natürlich nicht zweifeln! - sich selbst einen immer neuen Befähigungsnachweis erbrachte und dass ihr Guthaben auf der himmlischen Bank ständig wuchs.

(Helmut Thielicke, 1908-1986)

Quelle: In Bildern reden, Heinz Schäfer, Beispiel 1442
© Alle Rechte vorbehalten