Die zwei Spiegel
Eine Jungfrau, sonst guten Wandels und Namens, die aber aus ihrer Schönheit, so sie von der gütigen Natur empfangen, einen kleinen Abgott machte und dieselbe durch übrigen Schmuck noch schöner zu machen öfters beflissen war, hatte sich an einem Orte zwei Spiegel gegen einander dermaßen gestellt, daß, wenn sie dazwischen getreten, sie sowohl das Hinterste an ihrem Hauptschmuck, als das Vorderste beschauen konnte, maßen denn der hinterste Spiegel durch einen Gegenschein sein empfangenes Bild in den vordersten geworfen und ihr zu besehen dargestellt. Gotthold sah dieses und verwunderte sich über dieses ihr Kunststück, sagte aber dabei: Wisset ihr auch wol, daß oftmals die Schönheit, der man durch keinen Fleiß ein besseres Ansehen zu machen beflissen gewesen, sondern sie in ihrem natürlichen Glanz gelassen, mehr beliebt ist, als die, welche durch Schminken und Schmücken an ihr selbst stets bessert? Eine Rose ist ohne das eine schöne und wohlriechende Blume und bedarf nicht, daß sie mit fließendem Balsam betrieft werde, dadurch ihr natürlicher Geruch nur vernachtheilt würde. Zu viel schön sein wollen ist halb häßlich sein. Drum haltet Maß und erfreut euch nicht zu viel an dem grünen Kürbis eurer Gestalt, damit nicht Gott einen Wurm verschaffe, der ihn steche, daß er verdorre. Ich will euch aber zween andere Spiegel zeigen, in welchen ihr euch täglich, ja stündlich zu eurem Besten besehen mögt. Betrachtet allezeit das Vergangene und Zukünftige! Jenes wird euch zeigen, wie viel Gutes ihr von Gott euer Leben lang empfangen und mit wie schlechtem Dank ihr solches erkannt; dieses wird euch mancherlei Veränderung, welcher ihr und das Eurige unterworfen, blasse Krankheiten, trauriges Alter, den gewissen Tod und das letzte schreckliche Gericht vorhalten. Oder habt allezeit vor Augen Gottes Gerechtigkeit, welche alle Dinge mit wachsamen Augen beobachtet und zu seiner Zeit ahndet, damit ihr nicht stolz und sicher werdet, und dann Gottes Barmherzigkeit, welche ohne Unterlaß den Sündern folgt und nachläuft und alle ihre Mißhandlung im Feuer der Liebe verzehrt, auf daß ihr nicht kleinmüthig und gar zu traurig werdet! Und dies wird euch desto zuträglicher sein, so viel höher die unsterbliche Seele, als der nichtige Leib zu halten ist.
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