Die Zitronenschnitte
Einem vornehmen Herrn war von den Aerzten gerathen, daß er allezeit unter dem Essen sich sollte etliche Citronenscheiben, mit Zucker dick bestreut, auftragen lassen und dieselben genießen. Gotthold hörte dies und erkundigte sich wegen der Ursache, da ihm denn geantwortet wurde, daß es der Gesundheit des Herrn nicht anders zuträglich wäre, denn weil er mehrentheils andere hohe Personen bei sich hätte oder selbst in hohen Verschickungen bei andern sein und viel starken Weins trinken müßte, könnten die Citronen ihn nicht allein beim Appetit zum Essen erhalten, sondern auch der Hitze des Weins mit ihrer Kühle widerstehen und ihm zu zehren geben. So ist es denn, sagte Gotthold bei sich selbst, so schwer, als unmöglich, daß einer im großen Glück ohne Unglück glückselig sein kann. Das stetige Wohlergehen ist wie das stärkste Getränke; es macht fröhlich mit Uebermuth, frech, wild, unbarmherzig, lüstern, sicher und vergessen; und was kann hieraus, als die größte Gefahr des Leibes und der Seele entstehen? Darum ist es eine verborgene Wohlthat Gottes, wenn er einem bei dem süßen Wein weltlicher Glückseligkeit etliche saure Citronenschnitten von Widerwärtigkeit vortragen läßt, und dies macht mir gute Hoffnung von vielen reichen und hohen Leuten, daß sie zum Himmel gehören, weil ich sehe, daß sie bei aller ihrer Herrlichkeit oft so saure Bissen essen müssen, davon ihnen die Augen übergehen, das Herz einen Ekel vor der Welt kriegt und nach der lautern, beständigen Herrlichkeit im Himmel verlangt. Die aber hievon nicht wissen, die haben ihr so stetiges Wohlergehen in Betrachtung des reichen Mannes um desto mehr verdächtig zu halten. Mein Gott! meine Citronen und Zucker, deren ich mich im Wohl- und Uebelstand zur Gesundheit meiner Seele bedienen will, soll sein die Betrachtung meiner Sünden und deiner Gnade, der weltlichen Eitelkeit und der himmlischen Seligkeit, damit ich weder übermüthig, noch gar zu kleinmüthig werde, und dieser Welt so brauche, daß ich ihrer nicht mißbrauche.
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