Die Zeigerscheiben
Es wurden in einer berühmten Stadt an einem Kirchthurm zwei Scheiben angefestet, daß sie vermittelst der inwendig bereiteten Uhr die Stunden an ihren großen vergoldeten Zifferlinien zeigen sollten, wie man dergleichen auch hin und wieder in Städten und Dörfern findet. Gotthold sah dieses und sagte: Billig werden die Stunden mit goldenen Buchstaben oder Ziffern gezeichnet, damit sich ein jeder dabei erinnern möge, daß die Zeit theuer und mit keinem Golde zu bezahlen sei. Chrysaurus, ein gottloser Edelmann, wie Gregorius, Bischof zu Rom, mit dem Zunamen der Große, berichtet, sah in seinem Todtenbette die höllischen Geister in schrecklicher Gestalt um sich, die auf seine Seele warteten; daher schrie er mit ängstlicher Stimme: Ach Zeit, nur bis morgen! Gebet mir nur Zeit bis morgen! Es half aber nicht, seine Zeit war aus, die Gnadenzeit war verstrichen. Was meint ihr, hätte dieser Mann wol gegeben für etliche wenige Stunden, daß er sie zur Buße hätte anwenden mögen? Aber, ach wie wenig wird dies bedacht! Wie wird die edle Zeit so liederlich verbracht! Die meiste Zeit verschlafen, verspielen, verschwatzen, vertrinken, vereisen und verbringen wir ohne sonderlichen Nutzen und dünket uns die Zeit am längsten, da wir mit Gott reden, oder ihn reden hören, oder gottselige Betrachtungen und Gewissensprüfung anstellen, oder sonst etwas zu unserer Seele Nutz verrichten sollen. Der Zeiger an dieser Scheibe geht immer herum und überläuft eine Stunde nach der andern, endlich wird er meine und eure Todesstunde zeigen und man wird von uns sagen: in dieser oder der Stunde ist er verschieden! Hernach wird keine Zeit mehr sein, sondern nur die Ewigkeit. Darum lasset uns alle Stunden anwenden und keine ohne Gewinn auf die Ewigkeit vorbei lassen! Lasset uns, so oft wir die Hand an dieser Scheibe ansehen, uns dabei erinnern der Hand, die dem sichern und trunkenen Belsazer sein Urtheil an die Wand schrieb und ihm die herannahende Todesstunde andeutete. Daniel 5, 25. Lasset uns nicht allein Gott bitten, daß er uns lehre unsere Tage, sondern auch unsere Stunden also zählen, daß wir klug werden. Ps. 90, 12. Lasset uns bei jedem Glockenschlag bedenken, daß ein Theil unserer Zeit verflossen ist, davon wir unserm Gott nach der Zeit Rechnung abstatten sollen. Als wir denn nun noch Zeit haben, so lasset uns Gutes thun. Gal. 6, 10. Bei welchen Worten mir eine denkwürdige Geschichte zufällt, welche sich mit Bischof Konrad zu Hildesheim begeben. Dieser war morgens früh aufgestanden und hatte sich zu den Büchern gesetzt, weil er willens war, des andern Tags eine Predigt zu halten. Als er nun im Nachsinnen begriffen, ward er entzückt und es däuchte ihm, daß er sehe einen Bischof vors Gericht bringen und über alles sein Thun Nachfrage halten, welcher darauf zum Tode verdammt, seines bischöflichen Habits beraubt und den Peinigern übergeben ward. Bald standen die, so da Gericht gehalten, auf und sagten aus obenangezogenem Ort: Als wir denn nun Zeit haben, so lasset uns Gutes thun! Nachdem nun Bischof Konrad zu sich selber gekommen und dieser Sache halber bekümmert war, kommt ein Bote und bringt Zeitung, daß sein Herr, ein Fürst des Reichs und auch ein Bischof, vorigen Abends plötzlich Todes verfahren wäre, darüber der gute Mann sehr betrübt worden und nachmals solche Worte des Apostels nie aus dem Munde und Herzen gelassen. Mein Gott! versiegle sie auch in meinem Herzen und hilf, daß ich die Zeit meines Lebens so anwende, daß es mich nicht in Ewigkeit gereue!
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