Die Weinrebe
Als Gotthold einen betrübten und sorgsamen Mann besuchen wollte, sagten die Seinigen, er wäre im Garten. Gotthold folgte ihm dahin und traf ihn eben an in der Arbeit, daß er den Wein beblätterte. Nach einem freundlichen Gruß fragte er ihn, was er mache. Ich sehe, sprach er, daß wegen des vielen Regens dem Wein viel Holz und Laub gewachsen ist, darum denn die Sonne zu den Trauben nicht kommen und sie zeitigen kann; so nehme ich nun etwas hinweg, damit der Wein reif und zeitig werde. Darauf sagte Gotthold: Vermerkt ihr denn auch, daß der Weinstock euch in dieser Arbeit widerstrebt und widerredet? Mein, warum haltet ihr dem lieben Gott für übel, was euer Wein euch nicht muß für übel halten? Ihr nehmt dem Weinstock das unnütze Laub, daß er desto schönere Früchte trage, und Gott nimmt euch die zeitlichen Güter und den irdischen Trost, damit der Glaube sammt seinen edlen Früchten, der Liebe, der Demuth, der Geduld, der Hoffnung, des Gebets u. s. w. bei euch desto größer, schöner und süßer werde. Es mag mir einer sagen, was er will, der aller Dinge Ueberfluß hat und von keinem Kreuz weiß, die Sonne der Gerechtigkeit mit ihren Gnadenstrahlen kann sein Herz nicht wohl berühren; deß Christenthum ist nicht, wie es sein soll; es pflegt nur herbe, saure Früchte der Heuchelei, des Stolzes, der Unfreundlichkeit, der Unbarmherzigkeit zu bringen. Darum lasset Gott mit euch machen, wie er will; er wird euch nichts verderben. Jetzt beblättert ihr den Wein, im Frühling habt ihr ihn behackt, gesenkt, beschnitten und angebunden. Lieber, ihr seid auch eine Rebe an dem geistlichen Weinstock, dem Herrn Jesu; Gott ist der Weingärtner und weiß wohl, daß ohne seine Gnade und Aufsicht er nichts Gutes von euch zu erwarten hat. Darum versenkt er euch durch Verachtung, er bindet euch an durch Trübsal, er beblättert euch durch Armuth, alles zu dem Ende, daß seine Gnade euch, und euer Herz ihm desto süßer sei. Ach, mein Gott! laß mich ja aus deiner Aufsicht nicht! sonst verwildere und verderbe ich. Beschneide, binde, blättere, wie du willst; das soll allezeit mein Trost sein, daß du es nicht kannst böse meinen.
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