Die weinende Jungfrau
Gotthold sah eine fromme Jungfrau weinen, darum, wie sie auf Befragen bezeugte, daß sie in einer Gesellschaft junger Leute wegen ihrer Armuth, schlechten Kleidung und einfältigen Sitten wäre verächtlich gehalten und zurückgesetzt worden. Ach! sprach er, wie glückselig ist der, welchen die Welt zurücksetzt und verachtet! Er ist wie einer, welchen nach erlittenem Schiffbruch das Meer zwar mit Ungestüm, aber doch auf eine sichere Klippe wirft, da er sein Leben erretten kann! Wie ist es doch so ein Großes, wenn uns die Welt selbst, die sonst des Teufels Kupplerin ist, die Gelegenheit zu sündigen abschneidet! Glaubt mir, die so hochgeehrten, hochgeliebteu, hochgezierten Jungfrauen sind den schönen Blumen gleich, um welche die Bienen und Mücken häufig schwärmen, den Honig daraus zu entführen. Die Gottseligkeit ist wie ein köstliches Oel im zarten Gläslein, welches am besten verwahrt ist, wenn man es bei Seite setzt und den Unvorsichtigen nicht viel in die Hände gestattet. Gefallt ihr der Welt nicht, laßt sie euch wieder nicht gefallen! so ist es gleich. Seht nur dahin, daß ihr Gott gefallen mögt! Euer Hauptschmuck und Krone sei Gottes Gnade, eure Halskette viel Sprüche der Schrift, eure Perlen die Buß-, Gebets- und Liebesthränen, euer Kleid die Gerechtigkeit des Glaubens und die Gottseligkeit, euer Gedenkring ein gutes Gewissen, euer Flor die Demuth, eure weiße Leinwand ein unbefleckter Wandel, euer Gespräch oder, wie die Welt sagt, euer Compliment das Gebet, euer Spiegel das Gesetz und das heilige Leben des Herrn Jesu Christi, euer Reichthum der Himmel, so werdet ihr eine Braut Christi sein und im Himmel vielen andern vorgezogen werden.
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