Die Wasser-Kreise
Gotthold sah, daß ein Knabe, an einem See stehend, am Ufer Steinlein auflas und nach einander in das stille Wasser warf, dadurch dann, wie bekannt, viele Zirkel oder Kreise im Wasser entstanden, die nach und nach sich vergrößerten und endlich vergingen. Hier hab ich, sagte Gotthold bei sich selbst, eine artige Abbildung meiner sinnreichen und fürwitzigen Vernunft, wenn dieselbe mit ihrem Nachdenken sich an das stille und tiefe Meer der göttlichen und geistlichen Dinge macht. Ich denke oft an die göttlichen Gerichte und vermeine, durch emsiges Nachsinnen an die Quelle zu kommen, aus welcher der wundersame und vor meinen Augen in sich verirrte und verwirrte Strom fließt, aber je mehr ich denke, je weniger weiß ich, was ich denke, und wenn ich meine, einen kleinen Kreis der Gerichte Gottes erforscht zu haben, so sind schon 1000 andere, die immer größer sind, und mich endlich verzagt und sagend machen: O welch eine Tiefe des Reichthums, beides der Weisheit und Erkenntniß Gottes; wie gar unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Röm. 11,33. Etwas besser lege ich vielleicht meine Mühe an, wenn ich der göttlichen unbegreiflichen Güte als dem Ursprung aller geistlichen und leiblichen Wohlthaten in Andacht nachsinne. Allein, wenn ich anfange zu denken, so ist eine Wohlthat über die andere, wie hier die Zirkel, daß ich abermals nicht fort kann, sondern ausrufe: Herr, mein Gott! groß sind deine Wunder und deine Gedanken, die du an uns beweisest; dir ist nichts gleich, ich will sie verkündigen und davon sagen, wiewohl sie nicht zu zählen sind. Ps. 40, 6. So geht’s mir auch in Geheimnissen christlicher Lehre, welche ich besser mit gläubigem Stillschweigen ehren, als mit scharfsinnigem Grübeln erforschen kann und, welches zu verwundern, mehr davon weiß, wenn ich einfältig, schlecht und recht, als wenn ich hochgelehrt und hochweise bin. Nun, mein Gott! du wirst auch vor mir, wie klug ich mich zuweilen dünken lasse, den Ruhm behalten, daß du ein verborgener Gott bist! Jes. 45, 15. Hilf mir diese Närrin, meine Vernunft, anfesseln und zwingen, damit nicht deine Thorheit meine Weisheit zu Schanden mache!
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