Die wälsche Nuß

Gotthold wurden etliche wälsche Nüsse in ihren grünen Rinden, wie sie halb zerschlagen und gequetscht vom Baum gekommen, vorgesetzt; indem er nun von denselben versuchte, hatte er dabei folgende Gedanken: dieser Kern muß doch eine sonderliche Kraft bei sich haben, wenn er mäßig und als eine Arznei gebraucht wird, weil man an der Natur fast gewohnt ist, daß sie, was sonderlich gut ist, aufs fleißigste einschließt und verwahrt, maßen denn auch dieser Kern zu Anfang, ehe er recht ausmachst, mit 4 und hernach mit 3 Rocken versehen ist. Ich sehe aber an dieser Nuß eine Abbildung menschlicher Frömmigkeit. Niemand ist, dessen Güte nicht in etliche Sündenhülsen sollte verhüllt sein. Ich kann zum Kern dieser Nuß nicht kommen, ehe ich meine Finger mit dem Saft der äußern grünen Rinde befleckt, die harte Schale zerquetscht und zerbrochen und endlich den weißgelben Rock ihm abgezogen habe. Und dies alles nehm ich gern über mich, weil der Kern mit seiner Süßigkeit alle solche Mühe erwiedert. Warum wollt ich denn nicht auch mit meinem Nächsten vorlieb nehmen, wenn er nicht lauter Kern und Tugend ist? Warum wollt ich nicht seine Fehler dulden, zuvoraus, wenn ich weiß, daß er nicht eine taube Nuß ist, ich will sagen, wenn ich klärlich spüre, daß das Herz nicht böse ist, sondern vom Glauben und Liebe mehrentheils beherrscht wird, nur daß es sich seiner angebornen und tief eingewurzelten Fehler nicht sofort entschlagen kann. Das edle Gold ist nicht alles stracks rein und lauter, sondern mit Schlacken umgeben, davon es das Feuer erlöst, Der schönste Weizen hat viel Spreu, die er doch, wenn er geworfen wird, hinter sich läßt; also leiden wir das Schlechte um des Besten willen an andern Dingen, warum wollten wir es unter uns nicht selbst thun? An lobwürdigen, tugendhaften Leuten ist nicht alles löblich und Tugend, und unter den Schlimmen muß man den für den Besten passiren lassen, der die wenigsten Fehler an sich hat. Mein Gott! vor dir weiß ich anders nichts zu sagen, als daß ich unter allen Sündern der vornehmste bin; vor Menschen aber habe ich genug, wenn sie noch etwas Gutes an mir finden und meine Fehler, wie ich ihre, mit Sanftmuth ertragen. Von denen aber, die niemals ihres Nächsten Finger mit ihren Fehlern befleckt und lauter Kern sind, magst du urtheilen, der du aller Welt Richter bist.

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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