Die Vorschrift

Gotthold sah einem Knaben zu, der in die Schreibschule ging, wie er die Vorschrift fleißig betrachtete und sich bemühte, dieselbe mit seiner Schrift zu erreichen, und sagte zu den Umstehenden: Sehet, wie alle Vollkommenheit aus der Unvollkommenheit entsteht, und wie man durch viel Fehlen recht machen lernt! Von diesem Knaben fordert man nicht, daß seine Schrift der Vorschrift durchaus ähnlich sei, sondern man ist mit seiner mühsamen Uebung zufrieden in Hoffnung, daß er sich immer bessern und endlich fertig und zierlich schreiben lernen werde. Wir haben auch eine Vorschrift, die uns der Herr Jesus gelassen, 1. Petr. 2, 21. nämlich die Vollkommenheit seines heiligen Lebens. Meinet aber nicht, daß er mehr von uns, als ein Lehrmeister von seinem Schüler fordere; wenn er uns in genauer Aufsicht seines Vorbildes und in fleißigster Bemühung und Hebung findet, so hat er mit unsern Fehlern Geduld und giebt uns Kraft durch seine Gnade und Geist, dieselben täglich zu bessern. Eines Christen Lehrjahre währen, so lange er lebt. Die besten Schüler in der Schule Jesu sind, die allezeit Schüler bleiben, ich will sagen, die zwar täglich ihres Lehrmeisters Vorbild vor Augen haben und demselben sich je mehr und mehr zu verähnlichen bemüht, jedoch niemals mit ihnen selbst und ihrer Nachfolge zufrieden sind. Darum muß man zweierlei meiden, die Nachlässigkeit und Kleinmüthigkeit, aus jener entsteht endlich eine Faulheit und Sicherheit, aus dieser aber eine verzagende Traurigkeit. Der Himmel steht nicht allein Vollkommnen und Starken, sondern auch den Irrenden und Schwachen offen, wenn sie nur ihre Fehler mit demüthiger Reue erkennen, und was ihnen mangelt, in der Gnade Jesu Christi suchen. Einem Vater ists eine größere Lust, wenn sein kleines Kind ihm ein Kissen mehr zuschleppt, als trägt, als wenn ihm ein starker Knecht ein anderes ordentlich getragen bringt. Also sieht Gott mehr auf den Willen, als aufs Vermögen. Mein Gott! verschmähe mein Unvermögen nicht! Ich lerne, mein Vater! laß dir doch mein Lehrwerk gefallen! Es mißräth mir oft mein ganzes Vornehmen, sollt ich aber darum gar ablassen? Das sei ferne! Ich will immer wieder anfangen, so lang ich lebe, das Meisterstück aber, wenns dir beliebt, im Himmel zu deinen Füßen legen.

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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