Die verletzte Glocke
Es ward an einem Ort eine durch einen Riß verletzte Glocke geläutet, deren Klang ihren Schaden bald zu erkennen gab; dies hörte Gotthold und dachte: so ist’s fast unmöglich, daß hoher Personen Fehler sollten verborgen bleiben. Je höher sie erhaben sind, je weiter man ihren guten oder mangelhaften Klang hört. Bei geringen Leuten werden auch große Fehler für klein geachtet, und je niedriger sie sind, je mehr und eher wird eine böse Nachrede von ihrer Niedrigkeit verschlungen. Bei großen Leuten aber werden auch geringe Mängel als groß beobachtet und wegen ihrer Höhe desto weiter ausgebreitet. Wenn ich in einem Gemach bin, das licht und hell ist, kann wol ein anderer, der im finstern Winkel sitzt, all mein Vornehmen bemerken, ich aber weiß von ihm und seinem Thun im Finstern weniger, denn nichts zu sagen; so ist’s mit dem, der im Ehrenstande sitzt, welchen viele kennen, die er nicht kennt, und sein Thun mit Luchsaugen belauerten, da er doch um sie sich zu bekümmern die Weile nicht hat. Drum ist’s zu beklagen, daß ihrer viel ihres Orts vergessen, an welchen sie von Gott verordnet sind, und oft vor dem Angesicht der halben oder ganzen Welt so ärgerlich leben, als säßen sie im Winkel, und sähe sie niemand. Und gesetzt, es sähe dich niemand, sieht dich denn auch Gott nicht? Drum, mein Mensch! denke immer daran, wer du bist und was deinem Amt und Stande wohl oder übel ansteht; je höher du bist, je größer ist deine Sünde, vornehmlich darum, daß du deinem Gott seine Ehrenstelle, die er dir eingeräumt, verunehrst, und dann, daß du so vieler Augen und Ohren mit ärgerlichem Nachklang füllst und sie durch dein Exempel verführst. Behüte mich, mein Gott! vor Aergerniß; ich will lieber niedrig, unbekannt und fromm sein, als hoch, berühmt und gottlos erfunden werden.
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