Die Vergessenheit
Gotthold las in einem Sendschreiben eines guten Freundes, daß ein gelehrter und großer Mann zu allen wichtigen Verrichtungen untüchtig geworden, weil er sein Gedächtniß verloren und sich weniger Dinge erinnern könnte. Im Nachsinnen befand er, daß ihm dergleichen von andern aufgezeichnet schon viel vorgekommen, und daß der Allerhöchste ohne Ursache es nicht verhänge, sondern, wie er oft die Glücks- und Leibesgüter hinweg nehme, also wolle er beweisen, daß er mit den Gemüthsgaben dergleichen zu thun sich nicht wehren lasse, auf daß die Menschenkinder ihn als den rechten Lehnsherrn solcher Güter um desto mehr zu fürchten und alles zu seiner Ehre zu gebrauchen mögen bewogen werden. Sonst, dachte er hierbei ferner, weiß ich nicht, ob ein gutes„ Gedächtniß der Vergessenheit, oder diese jenem vorzuziehen sei. Das Gedächtniß ist zwar die Schatzkammer, darin sich der Mensch einen Vorrath von allerlei guten Erinnerungen, nützlichen Lehren, trefflichen Begebenheiten und nachdenklichen Fallen sammeln und diese seinem Verstande, des ganzen Menschen Wohlfahrt dadurch zu befördern, aufbehalten soll; aber mancher sammelt mehr Böses, als Gutes darin; manchen hat sein gutes Gedächtniß in der Jugend zur Nachlässigkeit gebracht, daß er des Papiers, etwas zu verzeichnen, nicht geachtet, der hernach solches zu spät bereuen muß. Wohl dem, der in stetem Gedächtniß behält: 1) seine Sünde, daß er nicht sicher und stolz werde, sie stets bereue und in gläubiger Demuth zu Gottes Gnade und seines Erlösers Verdienst Zuflucht nehme; 2) die Wohlthat, so ihm von andern widerfahren, damit er sich dankbar bezeige; 3) den Tod, daß er sich auf dessen Ankunft christlich bereite. Wohl dem auch, der gründlich vergessen kann: 1) seiner Gutthaten, damit er nicht vor Gott und Menschen damit prahle, und sie ihnen im Herzen oder in Worten vorwerfe; 2) anderer Leute Uebelthat, damit sie ihn beleidigt, damit er nicht unsterblichen Zorn hege und rachgierig sei; 3) der verlornen Güter, damit er sich nicht umsonst betrübe und mit Sorgen plage. Verleihe mir, mein Gott, ein solches Gedächtniß und solche Vergessenheit!
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