Die Vaterstadt

Als Gotthold, nachdem er nunmehr über elf Jahre seinem Gott und Nächsten in der Fremde zu dienen beflissen gewesen, in die sechs und dreißig Meilen auf bittliche Erforderung der Seinigen, dieselben einmal zu besuchen, zu seiner Vaterstadt gereiset und dieselbe nunmehr im flachen Felde vor sich liegen sah, sprach er mit thränenden Augen: Mein Gott! dies ist der Ort, da mich zuerst deine Güte umfangen; hier ward ich dir zuerst in den Schooß geworfen, hier hat mich deine Hut und Hand in meiner Wiege bewahrt, hier ist der Taufstein, da du mich aus Wasser und Geist wiedergeboren und zu deinem Kinde aufgenommen hast, hier hat mich deine Gnade allezeit begleitet, deine Barmherzigkeit ist mir nachgefolgt und hat mich aus mancher Noth errettet und in vieler Gefahr, welche mir die Unvorsichtigkeit meiner Jugend verursacht, beschützt; hier hat deine göttliche Langmuth den Sünden meiner Kindheit mit großer Geduld nachgesehen und mir dieselben aus Gnaden vergeben; hier hast du mir ein ehrliches und vornehmes Geschlecht, christliche gottselige Eltern, getreue Lehrmeister, fromme Prediger und geneigte Herzen beschert; hier ruhen die Gebeine meiner Eltern und Geschwister; sollte ich dir nicht, mein Vater! mit einem demüthigen Fußfall danken für alle deine Barmherzigkeit und Treue, die du mir hier sonderlich und an vielen andern Orten mein Leben lang erwiesen hast? Mein Gott! ich freue mich, daß ich dieses mein irdisches Vaterland nach Verfließung etlicher Jahre wieder sehe. Ach, wie will ich mich freuen, wenn nach Verfließung aller meiner Jahre und nach vollendeter Pilgrimschaft des betrübten Lebens ich das himmlische Jerusalem, mein rechtes Vaterland, erblicken werde! Da wird mich deine Güte ewig umsahen, da wird mich keine Sünde beflecken, keine Noth betrüben, keine Gefahr schrecken, da will ich unter der Gesellschaft deiner h. Engel, aller meiner lieben Freunde und Verwandten, ja aller deiner Auserwählten vor deinem Angesicht mich ohne Ende erfreuen. Fahr hin, irdisches Vaterland! Fahr hin, Welt! der Himmel und mein Jesus ist mir besser, als du und alles.

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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