Die Vaterliebe

Es erzählte ein gottseliger Prediger, daß er in seiner Jugend von seinem frommen Vater, der auch ein Diener Christi und seiner Kirche gewesen, sehr hart wäre gehalten worden; als aber der Vater in seinem Letzten sich befunden, habe er ihn vors Bett lassen kommen und gesagt: Ich habe dich bisher, mein Kind, ob du wohl mein Einziger Sohn gewesen, nicht wissen lassen, wie lieb ich dich hatte; nun aber will ich dich der Gnade Gottes befehlen und dich segnen, und du sollst mit Gottes Hülfe wohl gesegnet bleiben. So recht, sagte Gotthold, so sollten es billig alle Väter machen; denn es ist ein Stück der väterlichen Liebe, die Liebe verbergen und die Kinder nicht zu zeitig lassen merken, daß man sie liebt; die frühzeitige Entdeckung der Liebe ist den Kindern wie den Bäumen das warme Wasser, dadurch sie zwar etwas zeitiger ausschlagen und grünen, hernach aber verdorren. Nun der liebreichste und weiseste Vater über alle andern hält es nicht anders, seine liebsten Kinder müssen oft lange nicht wissen, wie lieb er sie hat. Sie müssen von Jugend auf in die Kreuzschule gehen, ihr geringstes Versehen wird mit einer wachsamen und scharfen Ruthe gestraft, sie müssen Thränenbrod essen, werden hart gehalten und kärglich erzogen, der himmlische Trost, die geistliche Freude, die süße Genießung ihres Glaubens, der Anblick des göttlichen gnädigen Antlitzes wird ihnen sparsam gereicht, sie bitten oft mit betrübtem und zerschlagenem Herzen und mit viel tausend Thränen um die Versicherung der Vergebung ihrer Sünden und um den gänzlichen Frieden ihres Gewissens, sie klagen über die Schwachheit ihres Glaubens und bitten um Vermehrung desselben, sie klagen über die hinterstelligen Sünden in ihrem Fleisch, sie klagen und schreien über der Welt Zunöthigung und Bedrängniß, und es scheint, als achte es der Vater nicht, er thut, als hörte ers nicht. Die größten Liebhaber des Wortes können manches Mal keinen Schmack, noch Süßigkeit darinnen finden, die andächtigsten Beter bleiben oft lang ungetröstet, welche ihren Jesum am liebsten haben, und die sich Tag und Nacht nach seinen Wunden, wie ein Kind nach der Mutter Brüsten sehnen, gerathen oft in die schwerste Anfechtung, und er sagt zu ihnen mit ernstem Gesicht: was Hab ich mit dir zu schaffen? Welche an ihrer Seligkeit täglich wirken und zu derselben in Christo erwählt sind, ehe der Welt Grund gelegt ward, denen ist das Kabinet und die Bücher des himmlischen Vaters oft so fest verschlossen, daß sie ihren Namen darin angeschrieben nicht erblicken können. Hier ist nun traun Lachen zu verbeißen und denkt oft ein frommes Herz: heißt das Gottes Kind sein? nicht eine fröhliche Stunde fast haben, nicht einen väterlichen freundlichen Anblick, nur immer in der Schule, immer unter der Ruthe, und dergleichen? Allein dies ist die zwar wunderliche, doch unvergleichliche Liebe und Güte Gottes, der am besten weiß, wie er uns halten und zum Himmel erziehen soll; er bleibt jedennoch Vater, und ich sein Kind; er sehe süß oder sauer, er stäupe oder herze, er gebe das Wasser der Trübsal oder den Wein der Freuden, so bleibt er, der er von Ewigkeit gewesen ist, ein treuer liebreicher Vater in Christo Jesu. Die Sonne bleibt allezeit eine Sonne und scheint mit hellleuchtenden Strahlen, ob schon ein Nebel oder eine dicke Wolke zwischen ihr und unserm Gesicht sich setzt. So auch bleibt das Herz Gottes und seine Liebe in voller Kraft, wenn er uns schon nach seinem heiligen Rath mit dem Nebel der Widerwärtigkeit umgiebt. Darum müssen uns die Versicherungen seiner Gnade und die theuren Verheißungen in seinem Worte, wie auch die mancherlei Proben seiner väterlichen Liebe, gewisser und gültiger sein, als alles, was unsere Vernunft und das sündliche Fleisch sagt. Der Apostel empfand die Faustschläge des Satans und einen Pfahl im Fleisch und mußte doch vorlieb nehmen mit dem: Laß dir an meiner Gnade genügen! 2. Cor. 12, 9. Wohl sagt der geduldige Hieb 13, 15., 16.: So mich gleich der Herr tödten wollte, so will ich doch auf ihn hoffen, und weiß, daß er dennoch mein Heil sein wird. Nun, mein Gott und Vater! stelle dich, wie du willst, du bist dennoch mein Gott, mein Vater, und ich dein Kind. Halt mich hier hart und dort wohl, laß mich mit Seufzen, Klagen, Weinen meinen Weg vollführen, wenn er mich nur in den Himmel führt; mein Glaube sei schwach oder stark nach deinem heiligen Willen, wenn er mich nur selig macht. Eins bitte ich noch, mein Vater! laß mich doch in meinem Letzten wissen, daß du mich je und je geliebt hast, und laß mich, meiner Kindschaft und des himmlischen ewigen Erbes versichert, fröhlich von hinnen scheiden! Ende gut, alles gut!

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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