Die unglaubliche Suchaktion

Ein Sohn erzählt: Mein Vater war zur Zeit dieser Erzählung als Lehrling bei seinem ältesten Bruder in Rendsburg (Holstein) angestellt, wo der letztere ein großes Möbelgeschäft leitete; die verwitwete Mutter wohnte bei ihm und führte den Haushalt.
Eines Tages nun gab der ältere Bruder meinem Vater den Auftrag, nach der Bank zu gehen und da einen Hunderttalerschein in kleines Geld umwechseln zu lassen, da er am anderen Tage seine Arbeiter damit ablohnen wollte; dabei gab er ihm die strengsten Weisungen, ja recht vorsichtig und behutsam mit dem Gelde zu sein, was natürlich auch bestens versprochen wurde.
Der Weg zur Bank führte über den Eiderfluss. Dort, bei der Brücke angekommen, trifft der Knabe andere Jungen an, die eifrig mit einem Spiel an der Straße beschäftigt sind; er will an ihnen vorbei, aber sie versperren ihm den Weg und such ihn zu überreden, an ihrem Spiel teilzunehmen. Nach einigem Zögern gibt er nach und lässt ich überreden. Dabei legt er seine Mütze auf das breite Geländer der Brücke und unter die Mütze den Hunderttalerschein; er glaubte, denselben dort gut geborgen zu haben.
Und nun geht es an das Spiel, freilich nicht gar lange, und doch viel zu lange; denn während dessen war, unbemerkt von den spielenden Knaben, ein Windstoß gekommen und hatte die Mütze samt dem Hunderttalerschein in den Fluss geweht, so dass, als der Eigentümer der ersteren sich nun wieder auf den Weiterweg zur Bank machen wollte, er zu seinem größten Schrecken das Geländer leer und Mütze und Geld verschwunden fand.
Endlich, nach langem Suchen, gelang es ihm mit Hilfe der anderen Knaben, wenigstens die Mütze wiederzufinden und zwar im Wasser schwimmend, aber das Geld, das Geld, wo war das? Und was war nun zu tun? Er wusste, dass sein Bruder den Verlust des Geldes sehr schmerzlich empfinden würde; auch wusste er, dass derselbe, wenn auch ein durchaus rechtlicher, doch dabei auch strenger Mann war und mit Zittern und Zagen dachte er daran, was ihm bevorstand, wenn er nun nach Hause käme und den durch seinen Leichtsinn verursachten Verlust würde eingestehen müssen. Darum wagte er auch vorläufig gar nicht nach Hause zurückzukehren, sondern schlich sich erst nach Verlauf einiger Zeit durch die Hintertür ins Haus hinein, traf da die Mutter in der Küche und bat sie, mit ihm hinauf in seine Schlafstube zu kommen. Er sei in großer Not und Angst und wisse nicht, was er tun sollte.
Als nun die Mutter hinaufkam, da sah sie gleich an dem verstörten Gesicht ihres Jungen, dass etwas ganz besonders Schlimmes mit ihm vorgegangen sein müsse und als derselbe dann unter vielen Tränen ein offenes Geständnis seiner Schuld abgelegt hatte, da musste sie reichlich mitweinen in tiefem Mitleid mit dem armen, reumütigen Jungen. Dann sagte sie zu ihm: "Mein armes Kind, ich weiß dir keinen Rat zu geben in dieser Not, weiß auch niemand, der uns jetzt helfen könnte, doch - Einen weiß ich, komm knie nieder, wir wollen beten und Den anrufen der gesagt hat: 'Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten und du sollst Mich preisen.'" Und sie knieten miteinander nieder, die Mutter betete, "und dieses Gebet der Mutter", erzählte mein Vater, "das war der Wendepunkt in meinem 
inneren Leben, das gab mir den ersten wirklich nachhaltigen Anstoß zu einem neuen Leben und wurde somit die erste Veranlassung, unter des Herrn wunderbarer Leitung später dem Ruf Folge zu leisten und in den Dienst der Brüdermission in Südafrika einzutreten." - Doch zurück zu meiner Erzählung.
Nachdem Mutter und Sohn sich von ihren Knien wieder erhoben hatten, sagte die erste: "Ich will gleich mit dir gehen und dir noch einmal am Flusse suchen helfen; bei Gott ist nichts unmöglich, vielleicht lässt er uns das Geld doch wiederfinden." Und so gingen sie alsbald als dem Hause und dann durch den Garten zum Fluss.
Dort suchten sie eine Zeitlang gantz vergeblich am Ufer entlang, in der Hoffnung, unter den angeschwemmten Blättern den verlorenen Geldschein wiederzufinden, bis sie zuletzt an eine Stelle kamen, wo der lange Zweig eines Strauches ins Wasser hinabhing und etwas hinzu geschwommenes Gras und Laub gefangen hatte. Vermittelst eines langen Stockes gelang es ihnen, den Zweig nach ihnen hin zu biegen, so dass sie denselben untersuchen konnten; und da, verborgen unter nassem Gras und Laub, fanden sie unter anderem auch ein Stückchen ganz nassen Papiers, sie sahen es sich genau an und - siehe da! es ist der verlorene Hunderttalerschein! - ganz durchnässt, aber sonst noch ganz unversehrt! - Die Mutter eilt nach Hause, trocknet das kostbare Papierchen sorgfältig am Ofen, glättet es mit einem Bügeleseien und dann mit dem Jungen noch schnell hin zur Bank, ehe dieselbe geschlossen wurde. Dort erzählt sie offenherzig die ganze Geschichte. Der Geldschein wird untersucht, als noch vollwertig angenommen und mit dem gelösten Kleingeld in der Tasche, sowie mit überströmenden Dankgefühlen in ihren Herzen  kehrten Mutter und Sohn nach Hause zurück.

Quelle: Der ewig reiche Gott, Dietrich Witt, Beispiel 903
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