Die ungebändigte, innewohnende Sünde
F. von Bodelschwingh erzählte einmal folgende Geschichte: Es sind nun schon neun Jahre her, da ging ich mit unserem Hund die Dorfstraße entlang. Plötzlich war er von meiner Seite verschwunden und jagte hinter einem Huhn her. Er trieb es in eine Hausecke, aus der es für das arme Huhn kein Entrinnen gab. Aber mit einigen Sätzen war ich hinterher. Durch meinen Zuruf erschreckt, ließ der Hund von seinem Opfer ab. Das Huhn flatterte nun davon, dafür war der Hund jetzt in der Ecke gefangen. Was nun folgte, kann man sich denken.
Die Tracht Prügel von damals erwies sich für unseren Hund als die größte Wohltat. Sie hielt ihn in der Furcht und schützte ihn vor der Leidenschaft im eigenen Innern und vor den schädlichen Folgen, die jede ungezügelte Leidenschaft mit sich bringt.
Fünf Jahre hindurch tat der Hund nie wieder einem Huhn ein Leid. Da, bei einer Wanderung im Herbst, geschah, was keiner von uns für möglich gehalten hatte. Plötzlich nämlich, als der Hund ein Huhn auf der Weide entdeckte, jagte er, wie von einem bösen Geist besessen, auf das arme Stück Federvieh zu. Kein Ruf hielt ihn zurück, und noch ehe die Hilfe zur Stelle war, hatte er das Huhn gefasst, zerrissen und ihm mit gierigen Zügen das Blut ausgesaugt.
Was sofort geschah, kann auch jetzt wieder ohne Mühe erraten werden. Seitdem geht der Hund, wie all die fünf Jahre vorher, an den Hühnern vorbei, als kenne er sie überhaupt nicht. Wer ihn sähe, würde es nicht für möglich halten, dass solche Leidenschaften in seinem Innern schlummern. Und doch: Er ist gebunden, obwohl er frei herumläuft.
Der Hund hat mir die Augen geöffnet. Ist es nicht mit vielen Menschen ganz ähnlich?
Gewiss, sie laufen frei herum, machen einen durchaus guten, gesitteten Eindruck, wissen, wie man sich zu benehmen hat. Man hat durchaus den Eindruck, wenn man nicht tiefer hinter die Kulissen schaut: Das ist ein Kerl, wie er im Buche steht!
Aber wer den Menschen kennt, wie er wirklich ist, weiß, dass diese Fassade täuscht. Wie viel ungezügelte Leidenschaften und Mächte ruhen oft im Herzen eines Menschen. Kennst du das Elend eines "Quartalssäufers", der zwei, drei Tage einfach nicht zu halten ist, wenn er "seine Tour kriegt". Hinterher weint und jammert er wirklich ganz ehrlich und über sich selbst, aber es hilft nichts. Nach gewisser Zeit ist er wieder soweit. Frei - und doch gebunden! Oder es gibt solche, die man "Grafen von Zorndorf" nennen kann. Sie sind eine gewisse Zeit lang " eine Seele von Menschen". Wenn ihnen aber etwas "in die Krone steigt", können sie wild werden, "wie ein Kümmeltürke". Hinterher schämen sie sich meist über sich selbst, aber es ist nichts zu machen: Frei - und doch gebunden! Irgendwie hat jeder: So eine Stelle, an der er an der Kette hängt.
Gibt es denn gar keine Hilfe dagegen? Freilich, es gibt eine. Die Bibel nennt das: "Tut Buße!" Sie meint dabei niemals, dass man sich quälen oder zermartern soll. Wörtlich heißt es: "Ändert euren Sinn!"
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