Die umgeworfenen Bäume

Es hatte ein großer Sturmwind in einem Gehölz viel stattlicher Bäume an unterschiedenen Oertern umgeworfen, daß sie an der Reihe wie die Erschlagenen lagen. Indem nun Gotthold dieses besichtigte und seine Gedanken in der Heimkehr darüber hatte, mußte er bei einem Baum vorüber gehen, der im freien Feld allein stand und dennoch vom gewaltigen Winde nicht beschädigt war, da er sich denn billig verwunderte, wie dieser Einsiedler hätte ausdauern können, da die andern mitten im Walde, da sie doch einer von dem andern Schutz haben konnten, hatten herhalten müssen. Im Nachdenken fand er, daß die Bäume, so im dicken Walde einer neben dem andern wachsen, ihre Wurzeln nicht so fest in die Erde treiben, als andere, die auf freiem Felde stehen, maßen denn jene mehr in die Höhe lang und schwang ausschießen und die Sonne suchen, auch von geringen Winden, da einer den andern schützt, nicht bewegt werden, darum sie denn hernach vom starken Winde in einer Reihe desto leichter zu fällen find; der aber auf freiem Platz steht, ist des Windes gewohnt, ist kurz und ästig, mit fast so vielen und starken Wurzeln in der Erde, als Zweigen außer derselben versehen, und darum kann er im Sturm und Ungewitter Stand halten. Und so geht’s auch, sagte er bei sich selbst, unter den Menschen zu, welche mit Bäumen zu vergleichen die Schrift so oft beliebt hat. Die rechten Kern- und Herzchristen muß man bei großer Menge, schwulstigem Ansehen und hochsinniger Vermessenheit nicht suchen; außer der Anfechtung stehen sie wol und breiten ihren glückseligen Wipfel gegen die lieblichen Sonnenstrahlen; so aber ein Sturm entsteht, da fällt einer über den andern. Was aber elend, einsam und verachtet ist vor der Welt, der Anfechtung von Jugend auf gewohnt, im Glauben fest gewurzelt und in der Liebe gegründet, die stehen und werden durch Gottes Macht bewahrt zur Seligkeit. Mein Gott! in deiner Gnade will ich meine Glaubenswurzel weit und fest breiten und setzen, du bist mein Hort, meine Hülfe und mein Schutz, daß mich kein Fall (oder Sturm) stürzen wird, wie groß er ist! Psalm 52, 3.

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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