Die Tränen
Gotthold ward ungefähr gewahr, daß eine gottselige, doch arme und betrübte Wittwe sich in ihrem Garten, den sie hinter ihrem Häuslein hatte, niedergesetzt, da sie denn zuöfters ihre Hände gen Himmel erhob und einen tiefen Seufzer nach dem andern abfertigte mit so vielen Thränen, die ihr über die Backen herunter liefen, daß er sich verwundern mußte, woher diesen Thränenquellen alles Wasser kam, das sie mildiglich gaben; er konnte sich des Mitweinens nicht enthalten und gedachte an Sirachs Worte: 35, 18. 19. Die Thränen der Wittwen stießen wol die Backen herab, sie schreien aber über sich wider den, der sie herausdringt. Als er ihr nun eine Weile zugesehen, machte er sich etwas näher hinan, da sie denn, so bald sie seiner gewahr ward, erröthete, die Augen trocknete und sich nicht gern merken ließ, daß sie in so ängstlichem Flehen mit Gott geredet und ihr betrübtes Herz vor ihm ausgeschüttet hatte. Er aber sagte: Ich gedenke jetzt an die Worte des Propheten Jeremias: Man hört eine klägliche Stimme und bitteres Weinen auf der Höhe; Rahel weint und will sich nicht trösten lassen. Aber der Herr spricht also: Laß dein Schreien und Weinen und die Thränen deiner Augen, denn deine Arbeit wird wohl belohnt werden, spricht der Herr, 31, 15. 16.; daß euer Herz in der Angstpresse stehen muß, daran lassen mich so viele Thränen, die ich euch habe vergießen sehen, nicht zweifeln, maßen denn dieselben anders nichts sind, als eine Feuchtigkeit, dem betrübten Herzen durch ein sonderliches Anliegen abgepreßt. Und wie der schönsten Kräuter und Blumen kräftigster Saft durch Feuer abgezogen wird, also mag ich sagen, daß die Zähren der Saft sind, welchen die Kreuz- und Angsthitze einem nothleidenden Herzen durch die Augen abgewinnt und abführt. Nun, seid getrost, und haltet euch versichert, daß der Herr euer Weinen hört, Ps. 6, 9., ja, daß er eure Thränen ohne Zweifel zählt und auf sein Buch schreibt. Ps. 56, 9. 139, 16. Ihr säet mit Weinen, ihr sollt dermaleinst mit Freuden erndten, Ps. 126, 5. Aus eurem Weinen wird ein Wein werden, den ihr mit unvergleichlicher Zufriedenheit im Himmel trinken werdet, eure Zähren sollen Perlen werden, damit man eure Ehrenkrone im ewigen Leben schmücken wird. Dies hörte sie an und vergoß dabei noch so viel Thränen, als sie zuvor gethan, und sagte mit kläglichen Worten: So ein jeder Christ sein Maß hat, das er mit Thränen füllen muß, mag ich sagen, daß mir ein großes zu Theil geworden, doch bin ich wohl zufrieden und danke dem getreuen Gott, der mir allezeit nach vielem Weinen und großer Traurigkeit eine Erleichterung meines beschwerten Herzens gönnt. Mein Gott! gieb mir die Gnade der Thränen, die brechen und erweichen ein menschliches Herz; wie vielmehr wird deine herzliche Barmherzigkeit ohne väterliches Mitleiden sie nicht können fließen sehen!
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