Die tief theologischen Deutschen

Corrie ten Boom erzählt: Ich bin zu einem Vortrag in einem Frauenkonzentrationslager in Deutschland. Hier werden ehemalige NS-Führerinnen gefangengehalten.
Ich finde dort "Aufseherinnen" aus Ravensbrück, dem Lager, in welchem ich einst eingeschlossen war. Nun sind sie Gefangene, und ich bin frei. Ich darf nachher aus dem Tor gehen ins freie Leben dort draußen; sie müssen bleiben. Doch ich bin gekommen, diesen Menschen den Weg zur wahren Freiheit zu zeigen, ihnen von der Liebe Gottes zu sagen, die alles Denken übersteigt, ihnen von Jesus Christus zu erzählen, der gekommen ist, um die Menschen glücklich zu machen, ganz unabhängig von ihren äußeren Umständen.
Aber  -  es ist nicht leicht, diese Menschen zu erreichen.
In einer Arbeitsbaracke sitzen sie vor mir. Jede hat aus ihrer Wohnbaracke einen Stuhl mitgebracht. Die Gesichter sind düster. Es ist, als ob ich gegen eine Mauer redete. Ich bete fortwährend, dass die Liebe Gottes mich erfüllen und durch mich hindurchstrahlen möge; aber ich lese auf den Gesichtern nur Abwehr und Bitterkeit.
Sie haben alle Bibeln bei sich. Sie wissen anscheinend darin Bescheid, denn wenn ich Texte zitiere, suchen sie sie flott auf.
Nachdem ich zweimal in diesem Lager gewesen bin, spreche ich mit der Kommandantin darüber. "Wie kommt es doch, dass ich keinen Kontakt bekommen kann?" frage ich sie. Sie lacht und erzählt dann, die Frauen hätten zu ihr gesagt: "'Diese Holländerin spricht zu einfach. Wir Deutsche sind kulturell so hochstehend und tief theologisch.' Ich fürchte, dass Sie einander nicht liegen; aber versuchen Sie es noch einmal. Sie haben die Erlaubnis, dreimal zu kommen."
Zu Hause gehe ich auf die Knie.
"Herr, gib du mir eine Antwort!" bete ich. "Ich bin für diese nationalsozialistischen Frauen nicht kulturell hochstehend und tief theologisch genug." Und ich bekomme eine Antwort:
"Schokolade!"
Ich verstehe es nicht. Ist das nun eine Antwort? Aber dann begreife ich auf einmal, was gemeint ist. Ich bin im Besitz einer Schachtel Schokolade. Das ist ein Artikel, der in Deutschland nirgends zu haben ist, geschweige denn in einem Konzentrationslager.
Frohgemut begebe ich mich am nächsten Tag wieder ins Lager. Da sitzen sie wieder vor mir. Widerstand und Abwehr lese ich auf den düsteren Gesichtern. Aber ich bin fröhlich und beginne: "Dies ist mein letzter Besuch, und nun habe ich eine kleine Überraschung mitgebracht, Schokolade!"
Wie die Gesichter aufleuchten! Welch ein Reichtum ist ein Stückchen Schokolade für diese armen Gefangenen! Wir sind auf einmal Freundinnen. Bei manchen soll ich sogar meinen Namen und die Anschrift in die Bibel schreiben.
Als ich dann anfange zu sprechen, sage ich: "Niemand von Ihnen hat mir etwas über die Schokolade gesagt."
"Jawohl, wir haben Ihnen gedankt."
"Gewiss, aber niemand hat mir erzählt, dass diese Schokolade in Holland hergestellt ist und aus Kakao, Zucker, Milch und Vitaminen besteht. Nein, Sie haben genau getan, was ich beabsichtigte, Sie haben die Schokolade mit Freuden gegessen."
Jetzt nehme ich die Bibel in die Hand und sage: "Mit diesem Buch ist es genau so. Wenn ich über dieses Buch etwas Theologisches oder Wissenschaftliches lese, dann macht die Bibel mich nicht glücklich; aber wenn ich in diesem Buch lese, dass Gott diese Welt so liebt, dass er seinen Sohn gesandt hat, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben, dann werde ich froh. Ich verstehe dann, dass in des Vater Haus viele Wohnungen sind und er auch eine für mich bereitet."
Gottes Geist wirkt, während ich spreche. Schranken fallen, und in den Augen lese ich Verstehen und Hunger, mehr von der Liebe zu hören, die alles Denken übersteigt.

Quelle: Hört ein Gleichnis, Heinz Schäfer, Beispiel 35
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