Die Theorie vom gerechten Krieg

Ein großer Teil der Christenheit, sowohl auf der katholischen als auch auf der protestantischen Seite, versucht die Frage nach der Teilnahme an einem Krieg auf der Basis der Theorie vom gerechten Krieg anzugehen. Diese Theorie besagt, dass unter strikter Einhaltung gewisser Konditionen ein bestimmter Krieg eine Ausnahme darstellen kann und die Lehren des Neuen Testaments nicht verletzt. Die folgenden vier Kriterien sollen die Christen bei der Entscheidung, ob sie an einem bestimmten Krieg teilnehmen oder nicht, leiten:
1. Krieg ist nur dann erlaubt, wenn alle anderen Versuche gescheitert sind.
2. Der Krieg muss eine gute Absicht haben. Zum Beispiel soll er der Wiederherstellung der Ordnung in einem Land dienen und nicht wirtschaftlichen Interessen des eigenen Landes. 
3. Es darf keine Brandstiftungen und Massaker geben und es dürfen keine unschuldigen Opfer sterben. Ziele müssen militärischer und nicht zivilistischer Natur sein. 
4. Die im Krieg angewendete Gewalt muss im Verhältnis zu dem beabsichtigten Ergebnis stehen. Der Krieg darf nicht mehr zerstören als gewonnen wird.
Gemäß der Theorie vom „gerechten Krieg" müssen Christen jeden Krieg anhand dieser Kriterien prüfen. Wenn die Verhältnisse oder Ziele eines Krieges sich ändern, müssen die Christen erklären, dass dieser Krieg gegen das Evangelium verstößt und sich weigern zu kämpfen.
In Bezug auf diese Theorie sollte man einige Beobachtungen in Erwägung ziehen. Erstens hat diese Theorie noch nie funktioniert. Es gibt keine Aufzeichnungen darüber, dass sie je angewendet wurde. Seit ihrer Konzeption im vierten Jahrhundert ist sie eine Theorie geblieben. Noch nie hat eine bedeutende Kirche einen Krieg offiziell verurteilt.
Zweitens geht die Theorie davon aus, dass die eine Seite im Recht ist und die andere im Unrecht. Aber soweit es mir bekannt ist behaupten in einem Krieg immer beide Seiten, dass ihre Sache gerecht ist. Offensichtlich gibt es auf beiden Seiten viel Ungerechtigkeit und keine Nation kann ihre eigene Sache unvoreingenommen beurteilen. 
Der katholische Autor Richard McSorley beschreibt in "Kill? for Peace?" eine weitere Schwäche dieser Theorie: „Diese Theorie wurde formuliert um zu zeigen, dass manche Kriege eine Ausnahme von dem Gesetz des Evangeliums darstellen könnten; sie wurde aber dazu benutzt, jeden Krieg für gerecht zu erklären, der sich gerade anbahnte. Anstatt im Ausnahmefall einen Krieg für gerecht zu erklären, wird diese Theorie dazu benutzt, alle Kriege für akzeptabel zu erklären. [...]
Für Christen ist die Theorie vom gerechten Krieg der einzige Versuch den Krieg moralisch zu rechtfertigen. Wenn man sie ablehnt, bleibt nur noch das Evangelium - und das lehnt das Töten als unmoralisch ab."
Ferner geht diese Theorie davon aus, dass (1) die Führung einer Nation sowohl vor als auch während eines Krieges ihrem Volk alle Fakten wahrheitsgemäß präsentiert, sodass die Christen eine moralische Entscheidung treffen können und (2) dass der Christ, gewöhnlich ein 18-jähriger junger Mann, den Durchblick hat um eine richtige Entscheidung zu fällen.
Schließlich geben viele Christen, die an der Theorie vom gerechten Krieg festhielten, zu, dass sie vollkommen zusammenbricht - selbst wenn sie tatsächlich mal angewendet werden sollte - wenn die modernen Waffen so beschaffen sind, dass sie Massen von Zivilisten umbringen. In einem katholischen Aufsatz über das Problem des Krieges schreibt Bede Griffith: „Bislang war es ein Streitpunkt, ob es einem Christen erlaubt ist den Kampf zu verweigern, aber nun muss die Frage lauten, ob es für einen Christen überhaupt legitim ist zu kämpfen." Allein schon die moderne Kriegstechnologie erklärt die Theorie vom gerechten Krieg für veraltet.

John M. Drescher, "Das Nein meines Gewissens"

Quelle: Christlicher Missions-Verlag e.V.
© Alle Rechte vorbehalten