Die Spinne

Es hatte an einem Hause eine große Spinne ihr rundes Gewebe und Netz aufgespannt und sich nach ihrer Art mitten hinein gesetzt, der unvorsichtigen Fliegen und Mücken zu ihrem Raube erwartend. Gotthold sagte: Ach, wie mancher welt- und geldsüchtige Mensch ist diesem Ungeziefer gleich, der aller seiner Gedanken Gespinnst dahin richtet, daß er andere, welche in ihrer Einfalt wandeln, in sein Garn bringen, sie in Weitläufigkeit verwirren und mit ihrem Schaden sich bereichern möge. Ja, sagte einer seiner Freunde, derer sind leider! jetzt mehr, als zu viel, und muß ich mich oft darüber verwundern, wie doch der gerechte Gott mit so großer Langmuth solcher Leute vorsätzlichem Frevel und Bosheit und der Beleidigung und Unterdrückung der Armen und Einfältigen zusehen kann; ja, wie er’s doch leiden kann, daß ein ungerechter und gottloser Mensch so viele gerechte und gottselige Seelen quälen und ihnen so viel ängstliche Seufzer und Thränen abpressen muß. Gotthold antwortete darauf: So höre ich wohl; wenn ihr einen Tag den Richtstuhl des Höchsten zu besitzen und mit Donner und Blitz nach eurem Willen zu verfahren hättet, so würdet ihr kaum Donnerkeile genug finden, die Gottlosen und Ungerechten zu erschlagen und ihnen den Weg zur Hölle zu zeigen. Man sollte es nicht meinen, daß Gott uns Menschen allzugnädig wäre und daß wir mit ihm zürnten, weil er nicht genug zürnt, wenn wir es nicht an dem Propheten Jonas in der Schrift und an uns selbst in täglicher Begebenheit erfahren hätten. Allein bedenket, daß Gottes Gedanken nicht unsere Gedanken sind, Jes. 55, 8., und daß er wunderlich regieren würde, wenn wir seine Räthe sein sollten. Diese Spinne, die ihr hie auf ihrem ausgespannten Garn sitzen seht, ist ein giftiges und unserm ersten Dünken nach unnützes Thier, und soll sich auch, wie die Rabbinen erzählen, ehemals König David darüber verwundert haben, was Gott bewogen, ein so unnützes Ungeziefer zu erschaffen; er hat aber hernach erfahren müssen, daß auch ein solch verachtetes Thierlein zu seiner Zeit nütze sein könnte, als er nämlich vor König Saul in die Höhle geflohen und eine Spinne sofort auf Gottes Geheiß ihr Gewebe davor gezogen, daß Saul nichts weniger denken könnte, als daß sein Feind sollte darin verborgen sein. Es ist auch kein Zweifel, daß solch und dergleichen Ungeziefer viele giftige böse Dünste, die in der Luft sich befinden, an sich ziehen, daher etliche Aerzte gerathen, man solle in Pestzeiten eine große Spinne in Nußschalen eingeschlossen am Halse tragen, eben zu dem Ende, daß die giftigen Dünste auf sie als auf einen Schwamm fallen möchten. Zudem, so ist ein solches, giftiges Thier einer Henne niedliches Bißlein, damit sie sich so sehr, als ihr mit einem frischen Ei, ergötzt. So geht’s nun auch mit den gottlosen Leuten zu; Gott duldet und erhält sie nicht ohne Ursache, die wir zum Theil im fleißigen Nachsinnen wol erkennen können, zum Theil aber seiner unerforschlichen Weisheit anheim geben müssen. Sind wir rechte Christen, so soll uns genug sein, daß Gottes Barmherzigkeit und unvergleichliche Langmuth so klärlich an einem solchen bösen Menschen erhellt, welche mit recht göttlicher Geduld seine Buße erwartet und seine Seligkeit sucht; thut er indessen vielen andern Schaden, so ist doch derselbe nur zeitlich, gereicht ihnen zum Besten, übt sie in der Geduld und Gottseligkeit und ist mit dem Verlust der Seele eines Menschen, welchen Gott zu behüten sucht, nicht zu vergleichen. Will er sich denn nicht bekehren, so wird ihn der gerechte Richter zu seiner Zeit, wenn er Gift, Sünde und Bosheit genug in sich gesogen hat, wie eine Spinne, mit sammt dem Gewebe aller seiner Anschläge herunter reißen und zertreten. Mein Gott! nichts ist schwerer, als deine Gerichte lassen recht sein und dich in deinen wunderlichen Wegen nicht meistern, und ist doch nichts zur Ruhe des Gemüths dienlicher, als eben dieses. Mache es, mein Herr, wie du willst! ich will schweigen, zusehen und das Ende mit Geduld erwarten.

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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