Die Sonnenuhr

Als Gotthold zur Sonnenuhr schaute, um zu erfahren, ob die Schlaguhren recht gingen, sagte er bei sich selbst: es ist zwar um diese Uhren eine künstliche Sache, allein, wenn die Sonne nicht scheint, so sind sie mit aller ihrer Kunst nichts nütze. Eben wie des Meisters Hand oft eine Leuchte oder Laterne, von getriebener künstlicher Arbeit verfertigt und mit hellem Horn oder Glas versetzt, die aber doch im Finstern zum Wegweiser nicht dient, wenn sie nicht von einem brennenden Licht erleuchtet wird, so ists mit uns Menschen auch. Ohne Gottes Gnade und des H. Geistes Trieb und Erleuchtung sind wir mit allen unsern natürlichen Gaben und Vermögen nichts nütze. Die Weisesten sind nicht weise, und die klügsten Räthe fehlen am meisten, wenn ihren Verstand und Rath die Gnadenstrahlen vom Himmel nicht beleuchten; die scharfsinnigen Gemüther fallen in die gefährlichsten Irrthümer, wo sie nicht ihr Herz, in demüthiger Erkenntniß ihres Unvermögens, der Sonne der Gerechtigkeit zu bestrahlen darstellen; ja die sinnreichsten Köpfe sind wie die subtilen Uhren, welche oft am ersten ins Stehen und Stecken gerathen und ohne stetige Aufsicht nicht fort können. Was ists denn, wenn wir uns viel wissen, daß wir viel wissen? weil alles unser Wissen nicht allein nichts nütze, sondern auch uns und andern schädlich ist, wenn wir nicht wissen, das himmlische Gnadenlicht in demüthiger Andacht aufzufangen. Mein Gott! von deiner Gnade bin ich, was ich bin! Laß deine Gnade an mir nicht vergeblich sein; laß dein Antlitz über mich leuchten, so kann und will ich vielen dienen.

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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