Die Schwachheiten
Ein gottseliger Mann klagte über seine vielfältigen Schwachheiten und sonderlich über die bösen Gedanken, deren er sich nicht erwehren könnte, sondern sie oft mit höchster Betrübnis seiner Seele leiden müsste. Ich bin, sprach er, einem Kinde gleich, welches bald gibt, bald wieder nimmt; ich gebe oft meinem lieben Gott viel im Vorsatz und nehme es bald wieder weg. Wenn er mich schreckt oder stäupt, so sag ich viel zu, vergess es aber bald, ach leider! und halte wenig! Hiebei drangen ihm die Tränen aus den Augen. Wohl, sagte Gotthold, seid ihr einem Kinde gleich, so vergleicht sich Gott mit einem Vater, der sich über seine Kinder erbarmt! (Ps. 103,13).
Ich habe niemals gehört oder gesehen, dass ein Vater um einiges Versehens, um einiger Fehler willen sein Kind hätte aus dem Hause gestoßen oder gar ins Wasser oder Feuer geworfen. Ohne väterliche Geduld und vielfältiges Erbarmen kommt niemand in den Himmel; oder meinen wir böse Menschen etwa, dass wir mehr Geduld können haben, als der gütige und langmütige Gott? Darum bedenket allezeit, dass ihr zwar ein Mensch seid, der ohne Fehler und Schwachheiten nicht sein wird bis in die Grube.
Der Mond, wenn er sein volles Licht hat, ist nicht ohne Flecken, und ein Christ ist in seinem besten Leben nicht ohne Sünden. Er hat zwar die Sünden verlassen, sie haben aber ihn noch nicht verlassen. Bedenket aber auch, dass ihr unter der Aufsicht und Zucht eines gnädigen und gütigen Gottes seid, der wohl weiß, was für ein Gemäche wir sind, und dessen Weisheit und Güte darin am hellsten leuchtet, dass er die Schwachheiten seiner Heiligen mit väterlicher Langmuth dulden und zu ihrem Besten wenden kann; vor allen Dingen aber setzet nur den gekreuzigten Jesum mit seinem heiligen Blut und Verdienst nicht aus den Augen.
Die Schrift sagt von den Gläubigen, dass sie in Christo seien, und so sei nichts Verdammliches an ihnen (Röm. 8,1). Ihr seid nicht der Mann, der für sich allein vor Gott bestehen kann, sondern Christus in euch und ihr in Christo. Gleichwie Leib und Seele durch das natürliche Band vereinigt einen Menschen machen, also Christus und der Mensch durch den Glauben verbunden machen einen Christen. Darum tut sich der heilige Apostel immer so nahe zu seinem Jesu: "Ich bin mit Christo gekreuziget", spricht er; "ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebet in mir". (Gal. 2,19-20). "Ich achte alles für Dreck, auf dass ich Christum gewinne und in ihm erfunden werde, nicht habend meine Gerechtigkeit, sondern die durch den Glauben an Christo kommt." (Phil. 3,8-9).
Und eben dieses ist eine von den vornehmsten Ursachen, warum Gott die übrigen Schwachheiten in uns und uns mit denselben täglich kämpfen lässt, damit uns der gekreuzigte Jesus mit seinem Blute desto lieber sei, und wir desto eifriger ihn zu suchen und uns desto fester an ihn zu halten genöthigt werden. So lasst euch nun eure Schwachheiten und bösen Gedanken zwar demütig, doch aber nicht klein- und zweifelmütig machen. Lasset die Tränen, wenn euch Gott die Gnade gibt, nur darüber fließen, denket aber auch, dass die Wunden Jesu mit Blut fließen, welches uns rein macht von allen Sünden. Verzweifelt an euch selbst, aber nicht an Gottes Gnade in Christo; achtet euch selbst für nichts, Christum aber mit seinem Blut und Verdienst für alles; streitet täglich mit euren Fehlern, und haltet sie, so viel möglich ist, unter in der Kraft Jesu Christi; werdet ihr denn ja zuweilen überwunden, so ist Christus noch nicht überwunden.
Ach, sagte jener, dies ist wol tröstlich, wenn es nur nicht von gottlosen und sichern Herzen mißbraucht würde! Gotthold antwortete: Unter den Gläubigen und Heiligen und unter den Sichern und Gottlosen ist in diesem Fall ein solcher Unterschied, wie unter einem schwachen Kinde, das aus Unvorsichtigkeit und Schwachheit in den Kot fällt, bald aber um Hülfe schreit und, wenn es wieder aufgebracht ist, mit Weinen zu seiner Mutter Schoß, dass es wieder gereinigt werde, eilt, und unter einer Sau, die sich mit Lust und gutem Willen in den Kot legt und ihre Kühlung und Freude darin sucht. Was hat sich die Sau auf das Kind, und ein unbußfertiger sicherer Mensch auf ein fehlendes, doch flehendes frommes Gotteskind zu berufen?
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