Die Schlüssel
Gotthold ward von einer begüterten Frau gefragt, was sie bei einem Gebunde Schlüssel, so ans dem Tische lagen, für gute Gedanken sollte haben. Er bedachte sich ein wenig und sagte: Ich erinnere mich, daß ein gelehrter Mann zum Sinnbild ein Bund Schlüssel malte mit der Beischrift: Alle können nicht alles, anzudeuten, daß Gott seine Gaben nach seinem heiligen Willen austheile und einem nicht alles verleihe, damit immer ein Mensch des andern bedürfe und einer dem andern nach dem Maß der Gabe, die ihm gegeben ist, zu dienen beflissen sei. Ein Schlüssel kann nicht alle Schlösser schließen, und ein Mensch kann nicht alles ausrichten, damit sie durch das Band des Friedens einander verbunden und nach Vermögen zu helfen bereit verbleiben mögen. Ein solch Bund Schlüssel kann euch eine gute Haushaltung vorstellen, darinnen der Mann muß regieren und erwerben, die Frau helfen und zu Rathe halten, die Kinder und das Gesinde arbeiten und gehorsamen, allesammt aber in der Furcht Gottes an einander halten und fleißig beten. Dieses letztere, fuhr er fort, erinnert mich, was unser Heiland zu seinem Apostel sagt, Matth. 16, 19.: Ich will dir des Himmelreichs Schlüssel geben. Ich gestehe zwar, daß er eigentlich redet von der Gewalt, Sünde zu erlassen und zu behalten, wie er selbst es anderswo, Joh. 20, 23., erklärt; doch kann man mit Recht sagen, daß er allen seinen Gläubigen die Schlüssel des Himmelreichs überantwortet hat, Joh. 16, 23., sagend: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, so ihr den Vater etwas bitten werdet in meinem Namen, so wird ers euch geben. Ich weiß, daß einmal ein Knabe von zehn Jahren seine Mutter, eine betrübte Wittwe, in ihrer großen Schwermuth, ohne Zweifel durch des H. Geistes Eingeben, mit dieser Betrachtung getröstet hat, sagend, Gott wäre ein reicher Herr und hätte einen großen Vorrath und seine Speisekammern wären voll und seine Schätze unerschöpft, die Schlüssel aber dazu hätte uns sein lieber Sohn gegeben, nämlich unser andächtiges Gebet, darum sollten wir mit Freudigkeit beten, so würde es uns an keinem Gute können fehlen. Freilich ist das Gebet der rechte Himmelsschlüssel. Ach, wenn wir ihn nur fleißig gebrauchen möchten! Es kommen mir auch hiebei in den Sinn die schönen Gedanken, welche jener gottselige Märtyrer im Jahr Christi 1555 aus seinem Gefängniß kurz vor seinem Tode von sich geschrieben, die sich hieher nicht übel reimen sollen. „Lasset uns,“ spricht er, „gerne diesen Weg gehen, dieweil uns der Tod nicht also überwinden kann, daß er uns zur Schmach und Verachtung gereiche/ sondern vielmehr ein Eingang ist zur Herrlichkeit; lasset uns, den Tod getrost ergreifen und annehmen, dieweil er nicht mehr einen Pfeil in der Hand hat, uns auf den ewigen Tod zu verwunden, sondern vielmehr einen Schlüssel, mit welchem uns das Himmelreich eröffnet wird, auf daß wir allda Jesum Christum, unser einiges und ewiges Leben, anschauen mögen.“ Als nun obgemeldete Frau Gottholden also reden hörte und darüber erseufzte, sagend: Das sind doch gute Gedanken bei den Schlüsseln, deren ich nicht leicht vergessen will, sprach er: Meine Freundin, sagt mir bei eurem Gewissen, ob alle diese Schlüssel euer eigen und stets in eurer Gewalt sind? Sie antwortete: was ihn daran zweifeln machte? Er fuhr fort: In manchem Hause sind viele Schlüssel zum Keller, Boden, Speisekammer, zu Truhen und Kasten, allein der Satan hat sie in seiner Gewalt. Mancher begüterte Mensch hat viel Vorrath und Schätze, was hilfts aber, wenn der Teufel die Schlüssel dazu hat, und nicht allein seine Kasten, sondern auch sein Herz fest verschlossen hält, nach dem, was der h. Apostel sagt, 1. Joh. 3, 17.: Wenn jemand dieser Welt Güter hat und sieht seinen Bruder darben und schließt sein Herz vor ihm zu, wie bleibt die Liebe Gottes bei ihm? Wie dies zugehe, davon will ich euch ein oder anderes Exempel erzählen. Stigandus, ein Erzbischof zu Kanterbury in England, lebte gar kläglich und hielt sich sehr schlecht; als ihm seine Freunde zuredeten, er sollte sich besser nach seinem Stande halten, verschwur er sich hoch, er hätte keine Mittel. Nach seinem Tode findet man an seinem Halse ein Schlüsselein zu seinem geheimen Kasten; als derselbe eröffnet, hat man ein Verzeichniß gefunden eines großen Reichthums, so er unter der Erde an einem Ort verborgen hatte. Dergleichen Exempel hat sich bei meiner Zeit mit einem weltlich gesinnten und ungeistlichen Geistlichen auf dem Lande zugetragen, welcher den Schlüssel zum Geldkasten an den Hals in seiner Krankheit gehängt und befohlen, ihm bei Leibe denselben nicht eher abzunehmen, als bis er ganz todt wäre. Ei, sprach sie, da behüte Gott vor! Ja, schloß er, es behüte Gott mich und euch davor um des Herrn Jesu willen!
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