Die säugende Mutter

Eine Mutter saß und stillte ihr Kind, als eben ein guter Mann Gottholden zu besuchen kam; weil er nun mit heiligem Nachdenken dieselbe hatte angesehen, sagte er zu seinem Freunde: Kommt, ich will euch ein Wunder zeigen! und führte ihn damit in die Stube; als er ihn nun auf diese Mutter verwiesen, sagte jener: Was ist denn das für ein Wunder? Ihr seht, sprach Gotthold, nicht ein, sondern etliche Wunder. Denn erstlich ist das Kind, welches Gottes Hände im Mutterleibe bearbeitet und im Verborgenen so wunderlich gebildet, auch aus Mutterleibe gezogen und lebendig erhalten haben, ein Wunder der Allmacht, Weisheit und Güte Gottes. Das andere sind die Mutterbrüste, welche Gott dem zarten Kinde zum Besten mit der süßen Milch, die aller Speisen und alles Getränks Kraft mit sich führt, anfüllt, daß es seine Nahrung zur Nothdurft und Ergötzlichkeit allemal darin findet, von welchen man mit allem Recht sagen kann, daß sie seien des Kindes Weinkeller, Speisekammer und ganzer Reichthum, dafür es weder Silber, noch Gold, noch Perlen, noch Edelsteine begehrt. Das dritte ist das Mutterherz, daran der allerweiseste Schöpfer die Brüste gleichsam gehängt und befestigt hat, damit die Milch von dem Herzen gleichsam gekocht und süß gemacht und mit Liebe gewürzt würde. Dem muß es nun an unvergleichlicher, unermüdeter Liebe, wie jenen an Milch, nimmer fehlen. Denket, was eine Mutter für Sorge, Unlust, Beschwerde, Wachen, Mühe und Arbeit mit einem Kinde hat, ehe es dahin kommt, daß es sie kann Mutter nennen! Und saget mir, ob es nicht ein Wunder der Liebe Gottes sei, daß sie alles mit Freuden über- windet und ungeachtet aller Unlust das Kind dennoch brünstiglich liebt, herzt und küßt? Doch damit ihr euch nicht zu beschweren habt, so will ich euch ein rechtes Wunder von einer säugenden Mutter erzählen. Zu Lüttich oder Luyck in der Böttgergasse starb in der Geburt eine Frau, Oda Josay genannt, und ließ ein Söhnlein, das sie zur Welt gebracht, nach sich; deren Mutter, einem Weibe über 50 Jahr, ging das Elend des verlaßnen und winselnden Waisleins tief zu Herzen, und als es sehr schrie, legte sie es an ihre Brust, welche nunmehr schon 11 Jahre vertrocknet gewesen und kein Kind gesäugt hatte. Das Kind saugt, und Gott schafft Milch in der Großmutter Brust in solcher Menge und so lange, daß es füglich konnte entwöhnt und mit andern Speisen erhalten werden. Da hat Gott abermals des verschmachtenden Ismaels sich jammern lassen und ihm einen Brunnen eröffnet, daraus er seinen Durst hat stillen können. Und solcher Wunder thut Gott viel, wenn sie nur von uns undankbaren Menschen wahrgenommen und erkannt würden! Ja, Gott selbst ist eine allgemeine säugende Mutter, das ist ein Schöpfer und Erhalter aller Dinge, und hat daher, wie etliche meinen, in der hebräischen Sprache unter andern seinen Namen, einen, der von der Mutterbrust herkommt, weil er mit den Brüsten seines Segens und Trostes alles versorgt und erhält, wie denn auch ein alter Kirchenlehrer (Clemens von Alexandrien) den Herrn Jesum die Mutterbrust Gottes nennt, weil wir aus seiner Fülle nehmen Gnade um Gnade, Joh. 1, 16., und allen Trost für unsere Seelen aus seinen h. Wunden saugen. Ach, mein Gott! laß mich daran gedenken, so oft ich eine säugende Mutter sehe, und laß mich, wenn meine Seele in Anfechtung der letzten Todesnoth einem schmächtigen Kinde gleicht, deines Trostes satt und voll, selig einschlafen!

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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