Die Rothe

Es ward einem jungen Mägdlein im Beisein Gottholds wegen einiger unziemlichen Sitten von seiner Mutter verweislich zugeredet, darüber dasselbe ganz erröthete und mit thränenden Augen sich in einen Winkel setzte. Dazu sagte Gotthold: Wie schön habt ihr doch euer Töchterlein gemacht mit diesem geringen Verweis! Diese purpurrothe Farbe und silberhellen Thränen stehen ihr zierlicher an, als das rothe Gold und die schönsten Perlen, maßen man diese auch einem unverschämten stechen Balg umhängen kann, jene aber bei den sittigsten Naturen sich nur eräugen. Eine Rose, in voller Blüthe stehend und mit den hellsten Thautropfen bethränt, ist nicht so schön, als ein solches Kind, das seines Versehens halber auf seiner Eltern Zureden erröthet und mit Thränen seinen Uebelstand beklagt. Dies ist der Schild, den die Natur ausgehängt hat, zu bedeuten, wo die Keuschheit wohnt. Laßt uns auch bei dieser Begebenheit Anlaß zu gottseligen Gedanken nehmen! Sehet, wie ein Glied des Leibes mit dem andern es so treulich hält. Wenn dem Gesicht etwas Widriges und Schamwürdiges begegnet, so erregt sich so bald das Herz und sendet demselben einen Guß Geblüts zu, damit es sich gleichsam verhüllen und der Schande entbrechen soll. So aber dem Herzen ein Unfall zustößt durch großen Eifer, plötzlichen Schrecken oder Furcht, so verliert sich unterm Gesicht alles Blut und eilt dem nothleidenden Herzen zu Hülfe, daher in solchen Begebenheiten die Menschen erblassen. So soll es unter uns Christen auch sein, weil wir unter einander Glieder sind; einer soll des andern Schande, so viel möglich und mit gutem Gewissen geschehen kann, helfen verdecken, seine Noth sich lassen zu Herzen gehen und ihm in allerlei Fällen zu Hülfe eilen, wie er kann und vermag. Allein, weil man bei wenig Leuten solches spürt, fehlt es nicht, es müssen wenig gute Christen sein. Mein Gott! jetzt sind die Zeiten, da die Ungerechtigkeit hat überhand genommen und die Liebe in vieler Herzen erkaltet ist. Matth. 24, 12. Es werden jedennoch wenige sein, die das Feuer der christlichen Liebe gern erhalten; laß mich, mein Vater, unter den wenigen sein!

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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