Die Rosmarin

Gotthold fand eine feine Frau im Garten bei etlichen Rosmarinpflanzen, denen sie eine Topfscherbe voll Wassers mit einem wollenen Lappen, welcher das Wasser allmälig an sich ziehen und auf die Pflanzen leiten sollte, zugesetzt hatte; die fragte er, ob sie bei dieser ihrer Arbeit auch gute Gedanken hätte? Sie sagte: Ich erinnere mich hiebei, daß, wie dieses edle Kräutlein in diesem Lande gleichsam ein Fremdling ist und guter Wartung vor Frost und Hitze bedarf, wenn es fortkommen und wachsen soll, also auch ich als eine gläubige und getaufte Christin mein Vaterland im Himmel und nicht in dieser Welt habe; damit ich aber unter den vielen Widerwärtigkeiten dieses mühseligen Lebens nicht vergehe, so ist die Gnade meines Gottes mein Schutz wider die Hitze des Kreuzes und meine Erquickung in aller Trübsal. Gotthold lobte diese Rede und sagte: Ihr könnt euch weiter bei diesem Kraut und dessen Wartung erinnern, wie euch gebührt mit dem göttlichen Worte zu verfahren. Ihr selbst werdet zugestehen, daß ein jeder Kern- und Machtspruch der Schrift schöner, edler und dienlicher ist, als alle Rosmarinpflanzen. Drum pflanzt dieselben häufig in den Garten eures Herzens und Gedächtnisses, begießt und befeuchtet sie mit gottseligem Nachdenken, mit andächtigen Seufzern und Thränen, und damit sie desto besser bekommen und wachsen mögen, so gätet aus eurem Herzen allerlei weltliche, fleischliche Gedanken, damit sie das edle Kraut des göttlichen Worts und die Himmelspflanzen nicht ersticken. So werden dieselben also wachsen, daß ihr dermaleinst im Himmel einen unverwelklichen Kranz davon tragen könnt. Traut ihr aber auch wohl, daß in Frankreich und England dieses edle Kraut so häufig wächst, wie bei uns die Heide, so groß, daß man sie auch zu Brennholz gebraucht und die Gärten damit bezäunt? Sie sagte: Ei, das müssen schöne Länder sein! Ja, sagte Gotthold weiter, wie schön wird dann das Land der Lebendigen sein! Hat unser Gott der Eitelkeit und Vergänglichkeit so viel verliehen, was wird er der seligen Ewigkeit vorbehalten haben? Ach, liebster Gott und Vater! hilf uns bald aus der Eitelkeit zu dir in die selige Ewigkeit.

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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