Die Raupen

Gotthold hatte seine Lust gesehen an den blühenden Obstbäumen und sich gute Hoffnung gemacht, die Früchte im Herbst mit Freuden zu brechen, aber nach wenig Tagen fand er, daß durch einen schädlichen Mehlthau viel Raupen geworden, welche die Blüthen sammt den Blättern verzehrt und die bloßen Zweige, als vom Feuer versengt, hinterlassen hatten. So gehts, gedachte er, mit menschlicher Hoffnung und Freude, die, ehe man sichs versieht, wie ein Dampf verraucht, und wenn wir meinen, unsere Glückseligkeit stehe in voller Blüthe, und machen schon Anstalt, ihrer nach Wunsch zu genießen, so ist es im Augenblick geschehen, daß sie wie ein Schatten sich verloren hat. Indem er nun diese Gedanken einem guten Freunde eröffnete, erinnerte derselbe, daß diese Bäume gar eigentlich vorbilden könnten die mit Fleiß erzogene, hernach aber von böser Gesellschaft verderbte Jugend. Wie herrlich blüht doch oft ein junges Blut durch so viel stattliche Anzeichen eines sittigen, gottseligen und tugendliebenden Gemüths, so lang es unter der Eltern und Lehrer getreuen Aufsicht sich befindet, und wird hernach von böser Gesellschaft so schändlich verführt und verderbt, daß es sich selbst nicht mehr ähnlich ist, und die Eltern für all ihre Mühe, Sorgen und Kosten einen versengten Baum, einen Taugenichts zu Hause bekommen! Ach, lieber himmlischer Vater! du weißt, was ich dich täglich der Meinigen halber bitte: bewahre sie vor der gottlosen Welt Aergerniß und Verführung! Sie sind dein, mein Gott! Du hast sie mir gegeben, und ich habe sie dir wieder gegeben. Darum segne und behüte sie, daß sie viel Frucht bringen zu deiner Ehre, meiner Freude und ihres Nächsten Dienst, und selig, selig werden!

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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