Die Pfropfreiser
Als Gottholden von einem guten Freunde ein gepfropfter Stamm gezeigt wurde, darauf die Reiser in kurzer Zeit sehr hoch geworden und lustig gewachsen waren, sagte er: Dies ist auch eins von den Wundern der Natur, das wir zwar täglich vor Augen haben, aber es wenig betrachten und zur Gottseligkeit beherzigen. Der Stamm ist mehrmals wild und wird aller seiner Zweige beraubt, bis auf eine Spanne lang abgeschnitten, zerspalten, mit fremden Zweigen besetzt und verbunden, die er auch nicht allein annimmt und mit allem seinem Saft und Kraft ernährt, sondern sich auch von ihnen bemeistern läßt, daß er seiner Wildigkeit vergißt und durch sie schöne und liebliche Früchte bringt. Nun sage ich mit Wahrheit, daß wir nicht Werth sind, einiger Frucht von einem solchen gepfropften Stamm zu genießen, wenn wir nicht die wunderliche Güte Gottes auch hierin mit Dank erkennen und auch aus solcher Veranlassung gute Erinnerung für unser Christenthum nehmen. Unser Herz ist der wilde und unartige Stamm, welchen Gott in seinen Kirchgarten versetzt, durch die Buße an allen seinen Kräften und Vermögen verzagen macht und Christum Jesum, seinen liebsten Sohn, das edle Reislein aus der Wurzel Isai, Jes. 11, 1., darauf pfropft und setzt, daß wir, durch ihn mit Früchten der Gerechtigkeit erfüllt, Phil. 1, 11., gute Bäume und Pflanzen des Herrn zum Preise werden. Jes. 61, 3. Ach, laßt uns ja wohl zusehen, daß dies edle Reislein durch des Teufels und der Welt Verführung und durch muthwillige Sünden nicht abgestoßen und aus unserem Herzen gerissen werde. Lasset uns oft durch fleißiges Nachdenken und Prüfung unsers Christenthums zusehen ob dieses Reislein in uns gewachsen, ob der Glaube, die Liebe, die Geduld, die Gottseligkeit zugenommen. Trauet mir, es ist die stärkste Kette der Hölle, damit der Teufel den größten Haufen der Menschen in ewige Verdammniß schleppt, daß sie um das Zunehmen ihres Christenthums nicht bekümmert sind, sondern meinen, wenn sie nur etwas vom Glauben gehört haben und wissen, so sei es zum Himmel übrig genug. Die meisten Christen sind wie ein gepfropfter Stamm, der unten ausschlägt, den Saft auf seine wilden Reiser verwendet und die eingesetzten verdorren läßt. So sind ihre meisten Gedanken aufs Irdische gerichtet, und wird des Herrn Jesu und seines Himmels darüber vergessen. Die Liebe zu den zeitlichen Gütern, die Wollust, die Kleiderpracht, die Wissenschaft, die Kunst, die Falschheit, die Feindseligkeit, die Heuchelei und andere solche Sachen steigen, wachsen und werden täglich größer, wie ein jeder, der den nächst verwichnen Zeiten etwas nachdenkt, leicht findet. Allein die Gottseligkeit wächst nicht allein nicht, sondern nimmt täglich ab, der Herr Jesus mit seinem theuren Verdienst, seligmachenden Evangelio und heiligen unschuldigen Leben ist aus den Herzen ausgerottet und ausgerissen und ist und gilt nichts mehr. Ach Jammer! ach Elend! ach Angst! ach Noth! ach ewiges Weh über die falschen Christen, in deren Herzen Christus nicht wohnt, wächst, wirkt, treibt und fruchtet! Sie haben als unfruchtbare, faule Bäume, nichts als die Zornart Gottes und das ewige Feuer zu erwarten. Matth. 3, 10. Ach, mein Herr Jesu! zerspalte mein Herz durch dein Gesetz und pfropfe dich tief hinein durch den Glauben, verbinde es fest mit dir durch die Liebe, beherrsche und ändere es durch deinen Geist und Gnade, bewahre es durch deine Macht hier zur heiligen Fruchtbarkeit und dort zur ewigen Seligkeit.
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