Die Obstbäume
In einem Baumgarten fiel unter guten Freunden die Frage vor, obs besser wäre, daß man die jungen Bäume beschnitte und ihnen keine Unterzweige ließe, ehe sie Manneshöhe erreicht, damit sie fein gerade aufwachsen könnten, oder, daß man sie nach Belieben wachsen und mehr in die Weite, als Höhe sich ausbreiten ließe. Die meisten meinten, es wäre zierlicher und nützlicher, einen hohen geraden Baum zu zeugen, als einen niedrigen, ästigen und breiten, weil jener nicht allein nicht so viel Raum im Garten einnähme, als dieser, sondern auch schönere und wohlschmeckendere Frucht trüge, als welche von der Sonne besser könnte beschienen und gezeitigt werden. Hingegen, sagte ein anderer, muß ein hoher Baum mitsammt seinen Früchten wegen des Windes in Gefahr stehen, welcher ihn oft vor der Zeit schüttelt und die Zweige mitsammt den unzeitigen Früchten herunterwirft, wovor ein niedriger und breiter Baum wohl gesichert ist. Gotthold hörte dieses und sagte: Dieser Streit kann nicht besser entschieden werden, als wenn einem jeden freigestellt wird, in diesem Fall nach Belieben und nach dem Raum, so er im Garten hat, zu verfahren. Bedenket aber hiebei, obs besser sei, im niedrigen Stande zu leben, oder nach hohen Dingen sich umzuthun. (Ich rede von gottseligen und tugendhaften Leuten). Wahr ists; wer durch einen Ehrenstand über andere erhaben ist und dennoch seine hohen Zweige mit Früchten der Gottseligkeit und Tugend ziert und durch Demuth sich beugt, der ist ein Baum, der Gott und Menschen wohlgefällt, dessen Früchte, je höher sie gewachsen, desto schmackhafter sind. Nur ist es zu beklagen, daß ein so geringer Wind die hohen Bäume schüttelt, ich will sagen, daß manche hohe Person auch mancherlei Gelegenheit hat, die Früchte der Gottseligkeit abzuwerfen, und oftmals ein unfruchtbarer Baum erfunden wird. Hingegen findet man auch bei niedrigen Leuten nicht geringe Mängel, vornehmlich, wenn sie durch Geiz und Eigennutz weiter um sich greifen, als ihnen gebührt, oder sich sonst unziemlich verhalten und dadurch verdienen, daß auch ihre Frucht verwerflich gehalten wird. Den Ausspruch thut der h. Paulus, wenn er sagt: Ein jeglicher, wie ihn der Herr berufen hat, also wandle er. 1. Cor. 7, 17. Hat Gott jemanden hoch erhoben, so muß er billig stets nach hohen Dingen trachten, nichts aber ist höher, als was himmlisch und göttlich ist. Hat aber der Höchste jemanden in niedrigen Stand gesetzt, so hat er sich zu trösten, daß die gottselige Niedrigkeit die richtigste Straße ist zu der rechten Hoheit. Alle aber die sind Gott lieb, die mit Früchten der Gerechtigkeit zu seinem Preis und Ehre erfüllt sind, Phil. 1, 11., sie seien hoch oder niedrig. Mein Gott, laß mich eine niedrige, doch fruchtbare Staude sein! In dieser Welt kann ich mein rechtes Wachsthum nicht haben, wenn du mich aber in deinen Garten von hinnen versetzen wirft, so werd ich grünen und wachsen immer und ewiglich.
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