Die Nachtigall
Gotthold ging an einem Wässerlein spazieren, welches auf der andern Seite mit Dornhecken und anderm Gestaude bewachsen war, in welchen sich unterschiedliche Nachtigallen aufhielten, welche unfern von einander sich hören ließen und es ihrer Art nach so kraus und künstlich machten, daß es das Ansehen hatte, als stritten sie mit einander und wäre eine vor der andern das Beste zu thun bemüht. Er hörte eine Weile mit Lust zu und dankte dem wunderfrommen Gott, der dem Menschen solche Musikanten ohne große Kosten bestellt, die mit ihrer kleinen, zarten Kehle fast allerlei künstliche Stimmen zu wege bringen, welche der Mensch mit so vielen Instrumenten kaum erreichen kann. Er suchte auch bei diesem Vöglein die Unterhaltung und Vermehrung seiner andächtigen Gedanken und sagte bei sich selbst: dies kleine, unansehnliche Vöglein mit seiner künstlichen, starken, mannigfaltigen Stimme erinnert mich, daß der große Gott auch geringer, schwacher und verachteter Herzen seufzendjauchzendes Lob nicht verschmäht. Dies Vöglein streitet mit einem andern, wer es am zierlichsten machen kann, und erwählt, also zu sagen, den Menschen zum Richter. Wo ist solch löblicher Streit unter uns Christen? wer bemüht sich, Gott, seinen Schöpfer und Erlöser, so herzlich und inbrünstig zu loben, als wollte und müßte er ihn allein loben und allen andern es zuvor thun? Dies Vöglein singet am lieblichsten, wenn es des Menschen inne wird, der ihm mit Fleiß zuhört, als wüßte es, wozu ihm sein Schöpfer ein so holdseliges Kehlchen gegeben, nämlich den Menschen zu erlustigen, von unzeitiger Sorge und Traurigkeit abzumahnen und zu freudigem Preis göttlichen Namens anzufrischen. Wie sollte ich denn nicht um desto mehr Fleiß auf mein armes Danklied, das ich meinem Gott und Herrn zu Ehren anstimme, wenden, weil ich weiß, daß er mir sammt seinen heiligen und himmlischen Hausgenossen mit Lust zuhört? Dies Vöglein singt in seiner Einfalt ohne eignes Gesuch, frei, fröhlich, seinem Schöpfer zu Ehren und dem Menschen zu Dienst; es macht’s zuweilen künstlich, zuweilen schlecht, bald fröhlich, bald traurig, bald ist’s lauter Zucker, bald bitteres Leid. Also soll mein Herz einfältiglich, ohne Heuchelei seinen wohlthätigen Gott loben, es soll ihm klüglich lobsingen, Ps. 47, 8., und bald über seine zuckersüße Güte fröhlich jauchzen, bald über seine bittersüße Züchtigung mit Thränen und kläglich, doch willig ihm danken. Dies Vöglein singt nicht allezeit, sondern kaum den vierten Theil des Jahrs und lehrt mich, daß die Freude der Zeitlichkeit flüchtig und nichtig sei, und daß in der Ewigkeit die beständige und vollkommene Ergötzlichkeit zu suchen sei. Mein süßer und freundlicher Gott! wie lieblich ist die Stimme deines Vögleins, wie mir anjetzt dünkt. Was werde ich sagen, wenn du mich würdigen wirst, die Stimme so viel tausend auserwählter Engel und Menschen zu hören!
Wie werd ich dann so fröhlich sein
Werd singen mit den Engelein,
Und mit der Auserwählten Schaar
Ewig schauen dein Antlitz klar!
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