Die Mutter
Es spielte eine Mutter mit ihrem kleinen Kinde, und nachdem sie es satt gesäugt und etliche Mal geherzt und geküßt hatte, fragte sie, ob sie nun sterben sollte, und stellte sich zugleich mit zugethanen Augen und Enthaltung aller Bewegung, als wenn sie todt wäre; das Kind sah dies eine Weile an und fing an kläglich zu weinen, als wäre ihm groß Leid geschehen. Gotthold sah dieses und gedachte bei sich selbst: So gehts auch oft zwischen mir und meinem lieben Gott zu. Mein Gott stellt sich oft, und mein sorgenvolles Herz meints, als wenn er gestorben wäre; wenn ich nämlich in meinen äußerlichen und innerlichen Anfechtungen keinen Trost, keine Hülfe, keinen Schutz verspürt; am Ende aber hab ich gefunden, daß mein frommer Gott seine Lust mit mir gehabt und meinen Glauben, meine Liebe, mein Verlangen, mein Gebet, meine Thränen auf die Probe hat setzen wollen. Ich erinnere mich hiebei, was ich erzählen gehört: Eine kluge und gottselige Frau, als sie wußte, daß ihr Mann eines besondern Unfalls halber sehr betrübt war und die Nacht Sorgen halber wenig geschlafen hatte, nahm des Morgens große Traurigkeit an, heulte und weinte. Der Mann verwunderte sich hierüber, weil sie vorigen Tags ihm mit Freudigkeit zugeredet und sich der Traurigkeit zu entschlagen ermahnt hatte, und begehrte die Ursache solcher unvermutheten Betrübniß von ihr inständig zu wissen. Sie, nachdem sie in etwas sich geweigert, sagte endlich: es wäre ihr im Traum vorgekommen, als wenn ihr jemand die Zeitung hätte gebracht, daß Gott im Himmel gestorben wäre, und hätte sie alle h. Engel weinen gesehen. Der Mann sagt: du Thörin, weißt du doch wohl, daß Gott nicht stirbt. Ei, spricht das verständige Weib, wenn wir denn solches wissen, warum betrübt ihr euch denn so herzlich, als wenn kein Gott mehr lebte, der unserm Unglück Maß und Ziel setzen und es gnädiglich lindern und ändern könnte? Darum trauet Gott und trauert als ein Christ und denket an das schöne Sprüchwort: Was trauerst du doch! Gott lebt noch! Fürwahr, mein Vater! wenn du nicht lebtest, ich wollte nicht wünschen eine Stunde zu leben! Und ob gleich du dich zuweilen stellst, als wärst du gestorben, so will ich doch, wie dies Kind, nicht nachlassen, dich in meinem Gebet und Thränen aufzuwecken, bis ich erfahre, daß du meines Angesichts Hülfe und mein Gott bist.
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