Die Libellenlarve und der Blutegel
In einem kleinen Tümpel schwamm die Larve einer Libelle. Sie war ganz für das Leben im Wasser eingerichtet und musste doch ersticken, wenn sie länger unter Wasser blieb, ohne Atem in freier Luft zu holen. War die aufgenommene Himmelsluft verbraucht, so fühlte sie immer wieder den unwiederstehlichen Drang nach oben, um neue Luft zu schöpfen.
"Du bist nicht recht gescheit", sagte zu ihr der benachbart hausende Pferdeblutegel, ein Mann von soliden Ernährungsgrundsätzen.
"Habe ich vielleicht jemals das Bedürfnis nach dem, was du Himmelsluft nennst?"
"Ach, ich habe nun einmal die Sehnsucht nach oben. Ich versuchte auch schon einmal, an der Wasseroberfläche nach dem zu schauen, was darüber ist. Da sah ich hellen Schein, und merkwürdige Schattengestalten huschten über mich weg. Aber meine Augen müssen wohl nicht geeignet sein für das, was über unserem Teich ist. Aber wissen möchte ich's doch. Es muss was Wunderbares sein."
Der Pferdeegel wand und krümmte sich vor Lachen. "O du phantasievolle Seele, die da meint, über dem Tümpel gibt es noch was. Lass doch diese Illusionen. Glaube mir, als einem erfahrenen Manne, ich habe den ganzen Tümpel durchschwommen. Dieser Tümpel ist die Welt, und die Welt ist ein Tümpel, und außerhalb dessen ist nichts."
"Aber ich habe doch Lichtschein gesehen und Schatten", sagte die Libellenlarve bescheiden.
"Hirngespinste", dekretierte der Blutegel, der keine Augen für Lichtempfindungen besaß: "Was ich fühlen und betasten und ansaugen kann, das ist das Wirkliche. Ich bin ein Freidenker."
Der Egel war zwar kein medizinischer Blutegel, sondern ein gewöhnlicher Pferdeblutegel, aber von der vornehmeren Verwandtschaft hatte er sich im ganzen Tümpel den Ruf eines Arztes erworben. Eines Tages klagte ihm die Libellenlarve: "Ach, ich bin gewiss krank. Es ist mir, als müsste ich sterben. Aber es ist mir doch auch so, als stürbe ich nicht, als verwandelte ich mich. Ich fühle den Drang, an einem Riedhalm emporzukriechen und aus dem Wasser heraus und sogar aus mir selbst herauszukommen und in einem viel freieren Element, als das Wasser ist, zu schweben. Es ist mir, als müsste ich als Larve sterben und etwas ganz Neues aus mir auferstehen für eine ganz andere Welt."
Der Egel hörte ihr bedenklich zu. "Es scheint wirlich mit dir zu Ende zu gehen; du hast Fieber. Sonst sprächst du nicht so. Andere Welt, Auferstehen, Verwandlung, das ist wissenschaftlich ganz unmöglich, das gibt es nicht. Wo der Riedhalm wächst, da fault er auch nachher. Kein Egel denkt an Auferstehung, sondern in diesem Tümpel und für ihn lebt er und stirbt er".
Aber die Libellenlarve konnte nicht anders. Sie kroch sterbensweh an dem Riedhalm empor. Alles in ihr bebte. Da wagte sie es. Sie stieg aus dem Wasser. Ihr Leib, ihr Bewusstsein verwandelten sich. Flügel wuchsen ihr. Goldener Sonnenschein und blauer Himmelsschein umspielten sie. Sie breitete buntglänzend die Flügel aus. Sie hob sich. Sie schwebte als schimmernde Libelle hoch über dem niedern Tümpel.
Nach: Lic. J. Jüngst in "Pflugschar und Meißel".
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